Dieser Eintrag wurde von Dr. Joachim Rumpf am 19.08.2013 in Görwihl im Hotzenwald verfasst.
Am Vortrag
Auf unserer Baustelle verließen wir am Nachmittag des sechzehnten Juni unsere Arbeitsplätze und versammelten uns im Kantinensaal. Dort diskutierten wir mit dem Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung, mit dem Parteisekretär und mit dem Baukaufmann (der Bauleiter war in Urlaub) darüber, wie wir es halten wollen: Gehen wir morgen arbeiten oder beteiligen wir uns am Streik. Mitentscheidend für den Beschluss, sich den streikenden Bauarbeitern in Berlin anzuschließen, war die Nachricht, dass auch die Kolleginnen und Kollegen von der Großbaustelle Velten die Arbeit niederlegen und in die Stadt zum Haus der Ministerien marschieren werden. [...]
Der 17. Juni 1953
Am siebzehnten Juni zu Arbeitsbeginn versammelten sich die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter der Baustelle in der Hauptstraße von Schildow vor dem kleinen Gebäude mit dem ehemaligen Ladengeschäft, in dem jetzt die Bauleitung untergebracht war. Einige Kollegen hatten ein Transparent vom Maifeiertag übermalt und unsere Forderungen nach Rücknahme der Regierungsbeschlüsse draufgeschrieben. Als sich unser Demonstrationszug in Bewegung setzte, gingen die Mitglieder der Bauleitung, die Frauen und Männer aus dem Baubüro und der BGL-Vorsitzende voraus. Der Parteisekretär war nicht erschienen. Der lange Marsch ins Zentrum durch Niederschönhausen und Pankow und ab U-Bahnhof Vinetastraße die ganze Schönhauser-Allee entlang begann. Auch an diesem Tag schien die Sonne. Es war warm und alle befanden sich in einer Art Festtagsstimmung. Vermutlich ging es den anderen ähnlich wie mir: in mir war eine erwartungsvolle Erregung, wie ich sie als Kind verspürte, wenn die Eltern mit uns in den Zirkus oder auf den Jahrmarkt gingen. Je näher wir dem Ereignis kamen, umso deutlicher waren Musik und Lärm zu hören, umso größer wurde unsere Spannung. Versetze ich mich in die Vormittagsstunden des siebzehnten Juni 1953 zurück, dann empfinde ich aber außerdem noch immer unser aller Euphorie, die lachende Zuversicht, die allgemein frohe Aufbruchsstimmung und ein so nicht gekanntes Gefühl der Zusammengehörigkeit und Solidarität.
“Frohe Aufbruchsstimmung“
Eine Episode, die diesen persönlichen Eindruck bestätigt, blieb mir als für diesen Vormittag typisch in Erinnerung: Ich wollte mich noch rasch mit etwas "Marschverpflegung" versorgen, verließ die Kolonne und sprang in eine Fleischerei. Der Laden war voll mit Frauen, die ebenfalls einkaufen wollten. Etwas für mich völlig Ungewöhnliches geschah, als die Frauen spontan eine Gasse bildeten und die Verkäuferin aufforderten, "den jungen Mann" zuerst zu bedienen: "der geht für uns nach Berlin". Die aufmunternden Worte, die mir die Frauen nachriefen, wiederholten sich. Vom Straßenrand, von den Balkonen herunter und aus den Fenstern begleiteten uns viele gute Wünsche und fröhliche Zurufe. Längst war unser Zug nicht mehr allein. Mit uns waren entlang unserer Strecke auch andere Betriebe auf die Straße gegangen. So vergrößerte sich der Demonstrationszug von Kilometer zu Kilometer. In der Schönhauser Allee war kein Anfang und kein Ende mehr sichtbar: nach vorn in Richtung Innenstadt und nach hinten in Richtung Pankow bewegte sich ein im wahrsten Wortsinne "endloser" Zug. [...] Niemand hat uns irgendeinen Hinweis darauf gegeben, was uns möglicherweise im Stadtzentrum erwartet. - Heute wissen wir, dass die Belegschaften der zentrumsnäheren Bezirke schon längst in Aktion waren. - Es gab keine Spitze des Demonstrationszuges mehr. Einer lief dem anderen hinterher und niemand war da, der uns hätte sagen können, wohin wir gehen sollten. [...] Ich kannte mich gut aus, setzte mich kurzerhand ab, drängte mich in stillere Seitenstraßen machte einen Bogen Richtung Weidendamm, ging vor zum Reichstagsufer und näherte mich der Straße Unter den Linden. [...]
Panzerwagen und Schüsse
Ich erfuhr, dass die Russen mit Panzern aufgefahren wären und dass bereits "dort vorne" geschossen würde. Es war hoher Mittag, als ich von den Museen her kommend die Menschen Unter den Linden herumlaufen sah. Ich hörte das Rasseln der Panzerwagen und hörte Schüsse knallen, noch ehe ich dort war. [...] Ich habe keinen russischen Soldaten gesehen. Offenbar wurde aus den geschlossenen Panzerwagen geschossen. Auch ob gezielt auf Menschen oder in die Luft geschossen wurde, konnte ich nicht feststellen. Wohl aber sah ich vor bis zum Brandenburger Tor und über die ganze Länge und Breite der Straße viele Menschen vor den Panzern zur Seite springen und wieder, gleichsam ziellos und rasch herumlaufen oder, gleich mir, irgendwo kurz zuschauend, stehen bleiben. Einige warfen Steine nach den Panzern, brüllten und schrien. [...] Durch Seitenstraßen lief ich hinüber zur Stalinallee, in deren Nähe in der Koppenstraße Bekannte von mir wohnten. Auf dem Weg dorthin hörte ich über Lautsprecherwagen zum ersten Mal, dass der Ausnahmezustand verhängt worden war und die Besatzungstruppen sich in dieser ihrer Eigenschaft wieder zu Worte meldeten. Und noch etwas bekam ich mit: In der Nähe vom Strausberger Platz traf ich auf eine Gruppe, die irgendetwas umstanden. Als ich hinzutrat, sah ich im Innern des Kreises einen Mann am Boden liegen. Er war von jemand als Funktionär (die Umstehenden sagten mir "das ist ein Spitzel") erkannt und zu Boden geschlagen worden. Abgesehen von den russischen Panzern war das die einzige Szene offener Gewalttätigkeit, die ich erlebte. [...]Was meine Kollegen und mich betrifft und die allgemeine Stimmung an diesem Nachmittag, so hätten wir uns eine Art zentraler Streikleitung gewünscht, zumindest aber Hilfe bei der Organisation weiterer gewaltfreier Aktionen. [...]
Gefühl der Unsicherheit
So ein Ereignis lässt sich aber nicht einfach beenden, wie irgendein Wochenenderlebnis. Dazu war auch die Unsicherheit zu groß bei der Frage, was würde denen passieren, die mitgemacht haben? Zunächst geschah gar nichts. Wir nahmen mit mehr oder weniger Verspätung am nächsten Tag die Arbeit wieder auf und tauschten unsere Erfahrungen aus. Die Normerhöhungen und die Kürzung der Auslösungen waren zurückgenommen worden und die Zeitungen schrieben über den "Neuen Kurs". Die Stimmung aber war sehr gedrückt und manch einer wird überlegt haben, wie er irgendwie aus der ganzen Geschichte wieder rauskommt, ohne den Arbeitsplatz oder den erreichten Posten zu verlieren. Mir war jedenfalls nicht wohl in meiner Haut, und ich wäre damals froh gewesen, wenn schon Gras über die Geschichte gewachsen wäre. Am zwanzigsten Juni erhielt ich von der zentralen Bauleitung die Versetzungsmeldung hin zu einer anderen Baustelle. Einige Wochen später wurde mir gekündigt. [...]
Weitere Erinnerungen von Dr. Joachim Rumpf finden sich auf seiner Homepage www.salpeterer.net/Zeitgeschichte.
Empfohlene Zitierweise:
Rumpf, Joachim: Mein siebzehnter Juni 1953, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/joachim-rumpf-mein-17-juni.html
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