Dieser Beitrag wurde von Josef Stauf (*1953) aus Sankt Augustin im Jahr 2000 verfasst.
Damals befand ich mich als Untersekundaner (Klasse 10) auf einer traditionellen Schule, in der 1967 noch der "Tag der Heimat" gefeiert wurde. In diesem Jahr 1967 trugen zwei Unterprimaner (Stufe 12) am Rockaufschlag aus Protest ein "Eisernes Kreuz", welches sie allerdings nach Einschreiten des stellvertretenden Direktors wieder abnahmen. Die meisten Schüler (damals war es noch eine reine Jungenschule) stammten aus dem wohlhabenden Bürgertum der südlichen Stadtteile. Nur wenige Schüler kamen aus Arbeitervierteln. Im folgenden Jahr brach über dieses ehrwürdige Gymnasium wie vielerorts in der Bundesrepublik die "von der SED und der DDR gesteuerte Kampfmaßnahme gegen das B.- Gymnasium" (wörtliches Zitat meines Lateinlehrers) aus. Ein Schüler der 13 veröffentlichte ein Flugblatt unter dem Pseudonym "Peter Marx":
"Peter Marx‘ Flugblatt":
SCHÜLER ALLER KLASSEN VEREINIGT EUCH!
der ruf nach demokratisierung der schulen erschallt in der BRD. die lehrer versuchen, ihn durch die errichtung der scheindemokratischen institution SMV zu unterdrücken. das soll ihnen nicht gelingen. Schüler des B.-Gymnasiums seid nicht so feige zu duckmäusern! euch kann nichts geschehen. dafür sorgen wir. sagt eure meinung frei und offen im Unterricht! lest Pardon und Konkret! tragt meinungsplaketten! schließt euch in einem arbeitskreis unabhängiger und sozialistischer schüler (AUSS) zusammen! nur geschlossen seid ihr stark!
SCHÜLER ALLER KLASSEN VEREINIGT EUCH!
Dann erschien eine kleine Flugschrift "Der Kommunarde", in der unter anderem dieser Forderungskatalog aufgestellt wurde:
1. einrichtung von gemischten klassen.
2. aufklärung der schüler über das jeweils andere geschlecht.
3. konkrete aufklärung der schüler über körper und psyche von mann und frau.
4. aufklärung über die heterosexuellen technischen und psychischen praktiken und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch experimentell in besonderen praxisräumen. immerhin werden uns die physikalischen gesetze auch nicht an den kopf geworfen, sondern experimente durchgeführt, damit wir wissen was los ist.
5. selbstverständlich auch die kostenlose verteilung von antibabypillen.
6. aufklärung über die homosexuellen praktiken, von denen prof. dr. ernst schneider die masturbation sogar für biologisch notwendig hält.
7. aufklärung über besondere formen der erotikentfaltung, die sogenannten perversionen.
Reaktion der Schulleitung
Die Schulleitung reagierte prompt und verwies den Schüler von der Schule. Der revolutionäre Schüler bemühte die verachtete bürgerliche Justiz, die die Verweisung sofort aufhob (Keine schriftliche Begründung der Verweisung, sogar die Benachrichtigung der Erziehungsberechtigten war vergessen worden!). Nun kehrte der Schüler zurück auf die Schule: Kein Lehrer gab ihm das Wort, aber auch kaum ein Klassenkamerad sprach mit ihm, aber für uns Mittelstufenschüler war er der Held. Mein Schulweg war teilweise mit dem Oberprimaner identisch, sodass ich "Insider-Informationen" hatte. Die Abiturfeier 1968 wurde von den Lehrern abgesagt, um nicht dem Revoluzzer auch gratulieren zu müssen. 1969-71 fand sie wieder im traditionellen Rahmen statt (Orchester, Anzug/Krawatte, Abiturreden, Grundgesetz). Erst in den frühen Siebzigern politisierten sich die Schüler. Die meisten Linken stammten damals wie heute aus konservativen wohlhabenden Elternhäusern. Diese Schüler konnten große revolutionäre Fêten in den Partykellern ihrer elterlichen Einfamilienhäuser feiern.
Rückblickend
Rückblickend erscheint mir vieles aus der damaligen Zeit so, wie F.J. Degenhardt es besingt: "Streiche von Kindern reicher Leute...vor dem großen Absahnen..."
(Flugschrift und Flugblatt im Privatbesitz, Kleinschreibung im Original, (Peter Marx ist das Original-Pseudonym)).
Empfohlene Zitierweise:
Stauf, Josef: 1968 APO-Zeit, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/josef-stauf-1968-apo-zeit.html
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