Dieser Beitrag wurde von Lutz Baumann (*1953) im Jahr 2014 in Berlin verfasst.
Die Bekanntschaft mit Alkohol machte ich erstmals im Mai des Jahres 1968. Im Adlershofer Wald trank ich, ich weiß nicht mehr den genauen Umstand, mit anderen, ich glaube, es waren Klassenkameraden, Wein. Wir teilten uns zwei Flaschen Weißwein und da ich noch nie vorher Alkohol genossen hatte (nicht mal im April 1968 zur Jugendweihe), bekam ich ganz schnell einen Rausch. Den Rausch empfand ich als sehr angenehm. Daraus wurde ganz schnell eine Gewohnheit. Wenn wir später auf der Straße unterwegs waren und etwas Geld hatten, besorgten wir uns im Konsum manchmal eine Flasche Liebeszauber. Die musste mein Freund Jürgen kaufen, denn der war zu dieser Zeit schon über sechzehn. War unser Freund Detlef S. dabei, gab es gar keine Probleme, denn der gab das Geld. Die Flasche Liebeszauber, ein übler Rotwein, kostete nur 3.90 Mark. Der Wein schmeckte überhaupt nicht und ich musste ihn runterwürgen. Aber mir ging es auch nicht um den Geschmack, sondern um die Wirkung des Alkohols. Der Alkohol ließ uns abheben und unsere Umgebung vergessen. Dazu noch die richtige Musik, am liebsten die Stones aus dem Kofferradio, so flüchteten wir aus dem existierenden Sozialismus und der Langeweile, die uns in Adlershof umgab, in unsere eigene Art von Traumwelt.
Ein Problem gab es. Ich musste spätesten bis um 21:30 Uhr zu Hause sein und so bekamen meine Eltern mit, dass ich manchmal eine Alkoholfahne hatte, da sie um diese Zeit noch nicht immer schliefen. Da ich kein eigenes Zimmer besaß, musste ich bei meinen Eltern auf einem Campingbett, das vor dem Ehebett im Schlafzimmer stand, schlafen. Schliefen sie doch, schlich ich mich mit einem Eimer, den ich zum Kotzen brauchte, ins Zimmer und stellte ihn neben die Liege. Durch das Geräusch aufgewacht, hörte ich dann meinen Vater zu meiner Mutter sagen: „Mensch, der Bengel hat wieder getrunken! Was wird bloß aus dem mal werden? Mit wem war der wieder zusammen? Dass der bloß den Schulabschluss schafft!“ Hatte ich zu viel getrunken und alles drehte sich, musste ich liegen bleiben, denn im engen Schlafzimmer verursachte jedes Aufstehen Geräusche und dann wachten meine Eltern auf, was ich auf jeden Fall vermeiden wollte. In der Zeit, die ich hier beschreibe, die Zeit bis zur Beendigung der zehnten Klasse im Juli 1970, kam es zum Glück noch nicht so oft vor, dass ich angetrunken nach Hause kam, sonst hätte ich den Abschluss der POS [Polytechnische Oberschule] nie geschafft. Doch ich kann es nicht leugnen, ich habe gerne getrunken und war glücklich im Rausch.
1. Mai - Kampftag der Arbeiterklasse
Ich glaube es war am 1. Mai 1969, dem internationalen Kampftag der Arbeiterklasse, und wir wollten mal was erleben. So fuhren mein Freund Jürgen, Kumpel Detlef und ich als Jüngster im Bunde am frühen Nachmittag zum Maifest im Volkspark Friedrichshain. Detlef S. hatte eine Flasche Kirsch mit Whisky spendiert und oben auf dem Bunkerberg, der noch nicht so bewachsen war wie heute und [auf dem] man eine gute Sicht auf Ost-Berlin hatte, leerten wir die Flasche auf das Wohl der Arbeiterklasse im Arbeiter-und-Bauern-Staat und die Werktätigen der ganzen Welt, auf „The Salt of the Earth“, wie Stones in ihrem Titel auf der LP „Beggars Banquet“ so schön sangen: „Let‘s drink to the hard working people“. Durch den Alkohol befeuert wurde uns richtig leicht um unser Herz und am liebsten hätten wir es den Spatzen nach getan und wären einfach mit ihnen zusammen über die Stadt geflogen. Der Kirsch-Whisky war uns ganz schön in den Kopf gestiegen, der Weg nach unten bereitete mir einige Schwierigkeiten, da ich von uns dreien am wenigsten vertrug. Wir liefen in unserem Rausch einfach querfeldein den Berg herunter und es hätte nicht viel gefehlt und ein Baum hätte vorzeitig meinen Maiausflug beendet. Zum Glück erreichte ich dann doch ohne Blessuren mit meinen Kameraden den Hauptweg im Park. Durch die Rennerei den Berg hinunter wurde wenigstens ein Teil des Alkohols verbrannt. Zusammen setzten wir uns auf eine Parkbank, um uns etwas auszuruhen.
Nachdem wir eine Zigarette rauchten, hatten Detlef und ich [einen] Einfall. Wir waren immer noch etwas alkoholisiert, [um] am Fest-Kampftag der Werktätigen mal ein paar Arbeiterlieder zum Besten zu geben. Gewöhnlich versuchten wir uns sonst an den Stones oder anderen Gruppen. Bei dem Liedgut der kämpfenden Arbeiterklasse waren wir richtig textsicher, hatten wir doch diese Lieder - im Gegensatz zu den von uns mehr oder weniger gut imitierten Beatgruppen - oft genug im Musikunterricht gesungen, ein großer Teil des Musikbuches war ja voll davon. Wir fingen an zu singen, intonierten nacheinander den bekannten Song „Auf, auf zum Kampf!“, dann das „Einheitsfrontlied“ und weiter ging es mit „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“. Das hätten wir lieber lassen sollen, denn was wir nicht gleich bemerkten: Wir wurden schon die ganze Zeit von Schutzorganen der Arbeiter- und Bauernmacht in Form von drei Volkspolizisten beobachtet, worauf uns unser Freund Jürgen hinwies, da er nicht mitsang, weil er nämlich nicht gut singen konnte. Die dachten: „Junge Leute, die einfach am Feiertag der Arbeiterklasse unaufgefordert Kampf- und Arbeiterlieder anstimmten, dabei noch etwas zu laut, das ist doch ein direkter Anschlag auf den Arbeiter-und-Bauern-Staat, da kann nur der Klassenfeind dahinter stecken, die sind vom Rias aufgehetzt, die öffentliche Ordnung ist gefährdet und das muss auf jeden Fall unterbunden werden.“
So kam es, wie es kommen musste. Die Bullen schritten zur Tat. Wir wurden aufgefordert, sofort mit diesen feindlichen Provokationen auf[zu]hören, die Personalausweise wurden uns abgenommen und sie führten uns zu einer Pinkelbude. Wir mussten uns mit dem Rücken zur Bude stellen und die Ausweise wurden geprüft. Hinter meiner Ausweishülle prangte ein kleines, abfotografiertes Bild der Rolling Stones. Das wurde gleich als eine Verunglimpfung von staatlichen Dokumenten gewertet und genüsslich zerriss der Obermeister der VP [Volkspolizei], wie er sich vorgestellt hatte, das kleine Bild und schmiss die Schnipsel in einen Abfallkorb. „So was machen se nich wieder“, wurde ich von ihm belehrt. „Überhaupt, was machen se hier? Sie sind doch aus Adlershof. Gehen se nach Adlershof.“ Wir wurden, da wir die Ordnung und Sicherheit gestört hatten, des Festes verwiesen, aber nicht bevor noch jeder 5 Mark Ordnungsgeld löhnen musste.
Zur Person
Lutz Baumann wird im Juni 1953 in Ost-Berlin geboren. Er besucht die 10-klassige polytechnische Oberschule, ist Mitglied bei den Jungpionieren und der Freien Deutschen Jugend. 1970 macht er eine Lehre als Bautischler, bevor er zwei Jahre später seinen Wehrdienst bei den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee ableistet. Von 1974 an arbeitet er als Bauarbeiter im Volkseigenen Betrieb „Bau- und Montagekombinat Ingenieurhochbau Berlin“ (VEB BMK IHB) und dann als Hausmeister in einer Musikhochschule. Im September 1988 siedelt er – mit einem genehmigten Ausreiseantrag – in den Westen Berlins über und ist beim Deutschen Roten Kreuz tätig. Seit 2004 unterstützt er das Jugendwiderstandsmuseum in der Galiläakirche in Berlin Friedrichshain.
Empfohlene Zitierweise:
Baumann, Lutz: Alkoholrausch, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/lutz-baumann-alkoholrausch.html
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