Dieser Beitrag wurde von Lutz Baumann (*1953) im Jahr 2014 in Berlin verfasst.
Die Dörpfeldstraße, bis vor dem Krieg Bismarckstraße, war und ist die Hauptstraße von Adlershof. Benannt nach dem Altertumsarchäologen Wilhelm Dörpfeld (1853-1940), fungierte die etwa 1,5 Kilometer lange Straße als einzige Flaniermeile des Ortes. Von den 1,5 km sind nur die ersten 1,2 km mit zwei bis vierstöckigen Häusern bebaut. Auf diesem Abschnitt der Straße, vom S-Bahnhof Adlershof bis zum Jugendklub Julian Grimau, lagen alle wichtigen Geschäfte wie Plattenladen, RFT Rundfunkgeschäft, Bibliothek, das Klubhaus Peter Kast, Sparkasse, Apotheke, eine Eisenwarenhandlung, zwei Fahrradläden, zwei Fleischereien, zwei Bäcker, ein staatlicher Fischladen, aus dem es immer stank, ein Schuhladen, ein Sattler, ein Spielzeuggeschäft, zwei Optiker, das Kino Capitol, der Markt mit seinen Verkaufsbuden für Obst und Gemüse, Blumen, Haushaltswaren, einer Bude mit Laufmaschendienst und einem Handwagenverleih.
Kampf um Haarlänge
Nicht vergessen habe ich den Friseursalon der PGH Figaro im ersten Teil der Straße, den ich gezwungenermaßen bis Ende 1969 mit großem Widerwillen aufsuchen musste, da ich den Anordnungen meiner Eltern zum Haareschneiden folgte. Was gab es nicht jedes Mal für Auseinandersetzungen mit meinen Eltern, die nicht einsehen wollten, dass ich die Haare länger tragen wollte. Sobald die Spitzen der Haare einen Zentimeter über den Kragen ragten, hieß es: „Ab zum Friseur!“ Es war jedes Mal ein Kampf, den Friseur davon zu überzeugen, so wenig wie möglich Haare abzuschneiden. Ab Januar 1970 verweigerte ich mich konsequent dem Friseur. Sie hätten es jetzt mit Gewalt versuchen müssen, aber dazu hatten sie nicht die Mittel. Nur noch einmal bin ich einen Kompromiss eingegangen und das war zu Beginn meiner Lehre als Bautischler im September 1970. Ich ließ mir die Haare etwas kürzen, danach bis zu meiner Einberufung im November 1972 bekam mein Kopf kein Haarschneider mehr in die Finger.
Selbstbedienungsladen und Straßenbahn Linie 84
Ende der sechziger Jahre gab es in Adlershof noch keine Kaufhalle, die ostdeutsche Variante des Supermarktes, sondern nur einen Lebensmittelselbstbedienungsladen an der Haltestelle der Straßenbahnlinie 84, unweit des Marktes. Vorherrschend waren privater und staatlicher Einzelhandel. Viele Geschäfte gab es schon vor dem Krieg.
Durch die Dörpfeldstraße rumpelte die Straßenbahn der Linie 84, die von Altglienicke über Adlershof, Köpenick nach Friedrichshagen fuhr. Die Triebwagen der 84, Baureihe TD07/25, waren die ältesten Fahrzeuge, die in Ost-Berlin zum Einsatz kamen, und so erzählte man sich, einmal hätte sogar ein Triebwagen während der Fahrt seinen Antriebsmotor verloren. Vorne im Führerstand saß der Fahrer mit einer abnehmbaren Kurbel. Mit dieser regelte er die Geschwindigkeit der Bahn. Bis Mitte der Sechziger gab es sogar noch einen Schaffner, bis dieser durch die Zahlboxen ersetzt wurde. Die 84 war die einzige Möglichkeit, nach Köpenick zu kommen. Eine Buslinie gab es nicht, auch keinen Nachtverkehr. Nachtlinien machten im Osten sowieso keinen Sinn, denn alle Veranstaltungen endeten spätestens um Mitternacht und die Leute, die eine Bar aufsuchten, hatten auch das Geld, ein Taxi zu bezahlen. Hier in Adlershof gab es keine Bar oder ähnliches. Die 14 Kneipen, einschließlich der HO Gaststätte am Adlergestell (immerhin Preisstufe III), wo man einigermaßen essen konnte, mussten für die 14.000 Einwohner des Ortes ausreichen.
Anfang 1969 ist ein 16-jähriger Jugendlicher, der in Altglienicke wohnte, im Alkoholrausch aus der Straßenbahn 84 gefallen, da die Türen der Linie 84 zu dieser Zeit noch unverriegelt waren. Ich sah ihn dann später auf Krücken auf einem Bein die Dörpfeldstr. entlang humpeln.
Für junge Leute einfach nichts zu bieten
Auf dem Bürgersteig dieser Straße marschierten wir, das Kofferradio in die rechte Armbeuge geklemmt, manchmal mehrmals zwischen Kino und Bahnhof am Abend auf und ab und hofften, dass irgendetwas passierte. Eine Ausweiskontrolle durch die VP galt da schon als ein großes Ereignis. Adlershof war einfach ein verschlafenes Nest, nicht mal ein Rummel, wie in Schöneweide oder Köpenick, verirrte sich hierher. Zwar gab es drei Kneipen in der Straße, aber dafür fehlte uns das Geld und die Leute, die dort verkehrten, waren auch nicht gerade das, auf was wir als Jugendliche abfuhren. Adlershof hatte für junge Leute einfach nichts zu bieten.
Einmal erklärte uns ein Gesetzeshüter bei einer Ausweiskontrolle, gegen meinen Freund Jürgen und mich lägen auf dem Polizeirevier an der Straße am Adlergestell Beschwerden vor. Der Sache wollten wir auf den Grund gehen und so baten wir um eine Aussprache mit dem Revierleiter. Als wir dort wirklich erschienen, waren die „Bullen“ fassungslos über so viel Frechheit. Die Anschuldigungen erwiesen sich als gegenstandslos, es lag gegen uns nichts vor. Wir passten einfach nicht in das damals vorherrschende Bild von Jugendlichen im „Sozialismus“. Mein Freund trug einen Levis-Anzug und einen SHELL PARKA 51, den er von einem Onkel aus Westberlin bekommen hatte. Außerdem war seine Haarpracht der eines Löwen nicht unähnlich, so dass er den Spitznamen Löwe führte. Ich hatte leider keine langen Haare, aber wenigsten Levis 501 und Basketballschuhe an den Füßen. Mein Glück war, dass ich seit Ende 1961 jedes Jahr zu Weihnachten ein Paar neue Levis 501 von meiner Tante aus Westdeutschland geschenkt bekam. Einmal durfte ich den Parka von Jürgen anziehen und ich lief stolz die Dörpfeldstraße entlang. Mit so einem Ding fühlte ich mich wie früher die Ritter in der Rüstung, so in etwa: Keiner kann mir jetzt was anhaben, ich bin jetzt kugelfest.
Zur Person
Lutz Baumann wird im Juni 1953 in Ost-Berlin geboren. Er besucht die 10-klassige polytechnische Oberschule, ist Mitglied bei den Jungpionieren und der Freien Deutschen Jugend. 1970 macht er eine Lehre als Bautischler, bevor er zwei Jahre später seinen Wehrdienst bei den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee ableistet. Von 1974 an arbeitet er als Bauarbeiter im Volkseigenen Betrieb „Bau- und Montagekombinat Ingenieurhochbau Berlin“ (VEB BMK IHB) und dann als Hausmeister in einer Musikhochschule. Im September 1988 siedelt er – mit einem genehmigten Ausreiseantrag – in den Westen Berlins über und ist beim Deutschen Roten Kreuz tätig. Seit 2004 unterstützt er das Jugendwiderstandsmuseum in der Galiläakirche in Berlin Friedrichshain.
Empfohlene Zitierweise:
Baumann, Lutz: Dörpfeldstraße in Berlin-Adlersdorf, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/lutz-baumann-doerpfeldstrasse-in-berlin-adlersdorf.html
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