Dieser Beitrag wurde von Lutz Baumann (*1953) im Jahr 2014 in Berlin verfasst.
Ende September 1972 arbeitete ich in einer Jugendbrigade in der Grellstraße auf einer Baustelle der zukünftigen Hauptverwaltung Zoll. Wir setzten Fenster auf Reihung in den über mehr als hundert Meter langen Rohbau ein. Die Arbeit war ganz schön schwer. Die Fenster mussten auf der Etage vertragen werden und wurden dann montiert. Nach acht Stunden Arbeit war ich dann am Feierabend ganz schön groggy. Als ich eines Abends ziemlich fertig nach Hause kam, lag eine Karte auf dem Abendbrottisch. Es war die amtliche Aufforderung, mit der ich wie viele andere junge Leute rechnen musste: Einberufung zur Ableistung des Wehrdienstes in der Nationalen Volksarmee.
Ich war erst mal wie geplättet, als ich die Karte in den Händen hielt. Na ja, dachte ich, lieber jetzt mit neunzehn als irgendwann später. Denn im November eingezogen, machte bei 18 Monaten Dienstzeit, wenn alles gut über die Bühne lief, eine Entlassung im Frühjahr möglich. Bloß keine zwei Sommer als Vaterlandsverteidiger. Ich hatte zwar mal was vom Dienst bei den Bausoldaten gehört, aber genaues wusste ich nicht. Nur so viel, dass dies nur für aktive Kirchengemeindemitglieder möglich war. Mit der Kirche hatte ich wie alle, die zu meinem Bekanntenkreis gehörten, nichts am Hut. Also musste man wohl oder übel versuchen, die anderthalb Jahre irgendwie zu überstehen.
…denn ich muss jetzt zur Armee
Das hieß dann, wie in dem Gassenhauer, Abschied von Sex und geilen Weibern, Abschied von Hasch und LSD, Abschied von Homosexuellen, denn ich muss jetzt zur Armee. Ich weiß nicht, wie der bescheuerte Text in den Osten gelangte, aber er war damals in meiner Altersklasse in aller Munde.
Generell hatte ich eigentlich nichts gegen den Kriegsdienst, aber das musste nicht unbedingt in der sogenannten Volksarmee sein und auch die Bundeswehr, wenn ich im Westen aufgewachsen wäre, kam mir da nicht in Betracht, wusste man doch von den vielen Nazigenerälen, die sich dort rumtrieben. Einen Staat, [für den] ich ohne Skrupel in einer Armee dienen konnte, gab es auf dieser Welt bis dahin noch gar nicht, so sah ich das jedenfalls mit meinen neunzehn Jahren im Oktober 72.
Ich hatte zu dieser Zeit gerade eine Eroberung gemacht mit dem für mich exotischen Namen Leona. Sie wohnte mit ihren Eltern im Hans Loch Viertel in Lichtenberg, dem beliebten Wohnort des unteren Kommunistischen Dienstadels. Sie machte gerade ihr Abitur an einer Erweiterten Oberschule, war sehr belesen und konnte Englisch. Ich durfte sie einmal besuchen, als ihre Eltern nicht zuhause wahren. Wir saßen im Flur, tauschten ein paar Küsse aus, tranken Wein und ich erzählte ihr, dass ich zur Fahne musste. Das ließ sie ziemlich unbeeindruckt und ich hatte das Gefühl, das kam ihr ganz recht, denn dann war sie mich ohne Komplikationen los. Näher als auf ein paar Küsse sind wir uns leider sowieso nicht gekommen. Sie bat mich nach einiger Zeit zu gehen, denn sie müsste noch zu einem Geburtstag und wollte mich nicht zu ihren Freunden mitnehmen. Ich denke, als Arbeiter war ich ihr nicht standesgemäß. Sie ging auch regelmäßig reiten, was ich noch nie im Osten von einem jungen Mädchen gehört hatte. Schweren Herzens verließ ich sie. Ich sollte sie nie wieder sehen.
Die Tage bis zur Einberufung verbummelte ich
Ziemlich niedergeschlagen fuhr ich nach Hause. Das Dumme war auch noch, ich sollte bis auf den letzten Tag bis zur Einberufung arbeiten. Dazu hatte ich überhaupt keine Lust. So ging ich zu meinem Hausarzt, um mich krankschreiben zu lassen. Mein Hausarzt war glücklicherweise ein privat niedergelassener Arzt. In seinem Sprechzimmer stammelte ich herum, sprach von einer Erkältung. Das klang sehr unglaubwürdig, ich bekam einen roten Kopf, lügen hatte ich nie richtig gekonnt. So nannte ich den wahren Grund meines Erscheinens. Als er hörte, dass ich zur Armee musste, schrieb er mich sofort bis zum Tag der Einberufung krank. Was ich schon vorher wusste, Dr. D. hatte nichts für das SED-Regime übrig. Sonst [war er] bei Krankschreibungen überkorrekt, [aber] mit meinem Vorbehalt auf die NVA stieß ich auf sein vollstes Verständnis.
Die Tage bis zur Einberufung verbummelte ich, saß abends in der Kneipe, blies Trübsal. Mein Vater versuchte, mich aufzumuntern, aber das half nicht viel. Ich entwickelte einen mächtigen Hass auf den Osten. Unnötigerweise ließ ich mir auch noch einen Tag vor meinem Abgang zur Fahne meine Haare und meinen Kinnbart von einem Frisör der PGH [Produktionsgenossenschaft des Handwerks] FIGARO in der Dörpfeldstraße schneiden. Hiermit entsprach ich einem Wunsch meines Vaters, der meinte, so würde ich nicht gleich schon am ersten Tag auffallen. Der hatte seine Weisheiten noch aus der Nazizeit. Jetzt wollte ich ihm einen Gefallen tun, da wir ja die letzten Jahre um das leidige Thema der Haarlänge immer endlos stritten.
Absitzen, antreten und von nun an alles im Laufschritt
Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten am Einberufungstag. Jedenfalls, meine Ausbildungskompanie der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung lag in Altwarp am Oderhaff im äußersten Nordosten hart an der Grenze zu Polen. Wir fuhren in einem Zug und mussten auf W50 LKWs aufsitzen. Kaum aus dem Zug, ging es los mit dem Armeeleben. Tierisches Gebrülle von irgendwelchen Unteroffizieren auf dem Bahnhof und an den LKWs die Ostmilitärpolizei mit Namen Kommandantendienst mit ihrem weißen Koppelzeug und weißen Gummiknüppeln, die sie in den Händen hielten. Alles sollte so schnell wie möglich vonstattengehen. Schon die ersten Minuten vermittelten einen Eindruck von dem, was noch folgen sollte.
Im Armeeobjekt angekommen, hieß es absitzen, antreten und von nun an sollte alles im Laufschritt gehen. Nur noch Gebrüll, Aufteilung in Züge, Zivilklamotten abgeben, Einkleiden, Sachen empfangen in der B/A Kammer. Alle Ausrüstungstücke wurden auf eine Zeltplane geworfen: Stiefel, Stahlhelm, usw. usw. - passt - weiter - der nächste Rekrut. Dann Einrücken in den Schlafsaal, in dem eine große Anzahl von Doppelstockbetten stand. Ich erinnere mich nicht mehr, wo die Spinde standen. Jedenfalls gab es erst mal ein riesiges Durcheinander, aber die Unteroffiziere brachten schnell Ordnung in das Chaos. Was gewöhnungsbedürftig war, die WC-Kabinen in der Toilette hatten zwar Schamwände, aber keine Türen. Die Rekruten sollten daran gehindert werden, durch Masturbieren die Kampfkraft der Luftstreitkräfte der Arbeiter und Bauernmacht herabzusetzen. In einem Doppelstockbett ging das schon gar nicht, sollte das nicht der ganze Saal mitbekommen, so ausgefallen die im Bett eingenommene, liegende Stellung auch sein mochte.
Was ich besonders nervend fand, war das ewige Gebrüll der Vorgesetzten. Der morgendliche Frühsport war mir besonders verhasst. Zum Essen im Laufschritt oder wenn dem OvD [Obersten vom Dienst] etwas an unserer Marschordnung nicht passte, alle runter in den Entengang, natürlich mit einem Lied auf den Lippen. Bis zur Vereidigung sollten uns erstmal die militärischen Grundregeln beigebracht [und] eingebläut werden. Als besonders wichtig wurde erachtet, dass alle richtig marschieren konnten, denn nach der Vereidigung sollten die Rekruten an der Regimentsführung im Stechschritt der alten Wehrmacht, den die NVA in Paradeschritt umbenannt hatte, vorbei defilieren. Das wurde Tag für Tag bis in den späten Abend geübt. Hier tat sich besonders der Kompaniechef der Ausbildungskompanie mit dem Spitznamen Minimeier hervor. Hauptmann Meier war zwar kaum zu sehen, aber er ließ es nie zu, dass man ihn überhörte. Dazu hatte ihn die Natur mit einer besonders lauten Stimme ausgestattet und sein Geschrei tönte von morgens bis abends über den Appellplatz. Das machte ihn bei den Soldaten besonders unbeliebt, denn auch beim Stubendurchgang hatte er immer etwas auszusetzen und war nie zufrieden.
Zur Person
Lutz Baumann wird im Juni 1953 in Ost-Berlin geboren. Er besucht die 10-klassige polytechnische Oberschule, ist Mitglied bei den Jungpionieren und der Freien Deutschen Jugend. 1970 macht er eine Lehre als Bautischler, bevor er zwei Jahre später seinen Wehrdienst bei den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee ableistet. Von 1974 an arbeitet er als Bauarbeiter im Volkseigenen Betrieb „Bau- und Montagekombinat Ingenieurhochbau Berlin“ (VEB BMK IHB) und dann als Hausmeister in einer Musikhochschule. Im September 1988 siedelt er – mit einem genehmigten Ausreiseantrag – in den Westen Berlins über und ist beim Deutschen Roten Kreuz tätig. Seit 2004 unterstützt er das Jugendwiderstandsmuseum in der Galiläakirche in Berlin Friedrichshain.
Empfohlene Zitierweise:
Baumann, Lutz: Einberufung in die NVA, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/lutz-baumann-einberufung-in-die-nva.html
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