Dieser Beitrag wurde von Lutz Baumann (*1953) im Jahr 2014 in Berlin verfasst.
Rebellische Musik der Stones
Die rebellische Musik der Stones entsprach am ehesten dem neuen vorherrschenden Lebensgefühl der Jugend im Osten Berlins. Der Sound der Rolling Stones stand deshalb bei der SED besonders im Verdacht, die Jugend zu verderben und vom Aufbau des Sozialismus abzuhalten. Bekanntlich gab es sonst zu dieser Zeit keine Möglichkeiten, an diese Musik ranzukommen, denn die Einfuhr von Westplatten war streng verboten und man musste schon über besondere Kanäle zu Diplomaten verfügen, die nicht an der Grenze kontrolliert wurden. Lizenzplatten mit Beat und Rock, die später unter Honecker von Amiga herausgebracht wurden - damit hatte der Spitzbart [gemeint ist Walter Ulbricht] nichts im Sinn.
Bei den Stones-Fans gab's den Spruch: „Hallo Fans in Ost und West, wer ist der King, wer ist the best?“ Die Antwort gibt der Beatfan-Chor: „Mick Jagger ran, Mick Jagger vor! Die anderen sind uns nicht geheuer, wir gehen für die Stones durchs Feuer!“ oder „Jedem das seine, uns die Rollenden Steine!“ So grenzte es schon an ein Wunder, als mein Freund Jürgen L. im Frühjahr 1970 durch eine Freundin mit dem exotischen Nachnamen C., deren Eltern zur Ost-Berliner Intellektuellen-Szene gehörten, für eine Woche die Stones LP „Let it bleed“ ausgeliehen bekam (erschienen Dez. 1969). Ich war als Stones-Fan wie im Taumel, als ich bei ihm zu Hause die LP in den Händen hielt und sie anschließend auf seinem Kofferplattenspieler hörte. Ehrfurchtsvoll betrachteten wir das Cover, ähnlich wie Katholiken die heilige Madonna von Chenstochau anbeten.
Die “Alten“ durch Musik provozieren
Zu dieser Zeit war es üblich, immer wenn wir am frühen Abend durch die Straßen stolzierten und dann die einzige Hauptstraße, die Dörpfeldstraße, entlang marschierten, ein Kofferradio in der Armbeuge zu halten. Mein Kumpel Detlef besaß einen Transistorempfänger, einen Stern-Party, der hatte leider nur Mittelwelle und Kurzwelle. Später dann eine Sonneberg 6000 mit UKW Empfang. Andere hatten immer ihren Stern 111 oder Stern 112 dabei. So fand sich meist eine Clique junger Leute am frühen Abend auf dem Marktplatz, alle so zwischen 15-19 Jahre alt, ein, die zusammen Beatmusik hörten.
Natürlich wollte man auch die „Alten“ durch die Musik etwas provozieren. Denn eine Erfahrung hatte man im Elternhaus oder in der Schule gemacht: Die Erwachsenen konnten Beat meistens nicht ausstehen. Standen zu dieser Zeit mehr als drei Leute in einer Gruppe zusammen, dann dauerte es nicht lange und die Staatsmacht in Gestalt der Volkspolizei erschien auf der Bildfläche. Die Polizei, die immer zu zweit auf Fußstreife unterwegs war, um die sozialistische Gesellschaft vor Angriffen zu schützen, hatte überall ihr wachsames Auge drauf und dazu gehörten auf jeden Fall Beatfans, aus deren Kofferheulen der Sound der Stones oder ähnlicher Gruppen erklang. Die Ordnungshüter, oft aus Sachsen nach Berlin gekommen, verlangten in sächsischem Dialekt: „Machen se mal den Westsender oder Rias aus.“ Dann die Anweisung im dienstlichen Tonfall: „Den Personalausweis zur Kontrolle!“ Die Daten wurden notiert und wenn man Pech hatte, musste gleich ein Strafgeld, laut Gesetz zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten in Höhe von 5 Mark, wegen Störung der sozialistischen Ordnung und des Zusammenlebens entrichtet werden. Wir warteten dann bis sie ihre Streife fortsetzten und drehten den Lautstärkeregler, jetzt nur etwas leiser, wieder auf. Es konnte aber auch vorkommen, dass man gänzlich des Platzes verwiesen wurde.
Das war besonders der Fall, wenn wir bei schlechtem Wetter vor dem einzigen Kino in Adlershof, dem Capitol in der Dörpfeldstraße, ein weiterer beliebter Treffpunkt junger Leute, standen und die Fußgänger sich von uns Jugendlichen belästigt fühlten. Die Kinobesucher sahen sich von den bei Regen vor dem Eingang Stehenden am Kinobesuch gehindert, die dann manchmal mit ausgezogener Antenne den Weg versperrten. Wir standen im Vorraum herum, weil uns nichts Besseres einfiel, man wusste einfach nicht wohin. Der staatliche Jugendklub kam nicht in Frage, den durfte man in Jeans und etwas längeren Haaren nicht betreten, außerdem konnten wir dort nicht unsere Musik hören. Das blieb so lange, wie Walter Ulbricht am Ruder war. Erst mit der Entmachtung Ulbrichts durch Honecker 1971, der einen etwas liberaleren Kurs in seiner Jugendpolitik verfolgte, änderte sich das und keiner bekam mehr Schwierigkeiten wegen langer Haare und Jeans.
Das war für uns aber sowieso egal, wir waren aus der Schule raus, längst in der Lehre, die Kofferradios standen nun in der Ecke und am Wochenende ging es jeden Sonnabend zum Jugendtanz, wo jetzt ganz legal die angesagtesten lokalen Beatcombos auftraten.
Zur Person
Lutz Baumann wird im Juni 1953 in Ost-Berlin geboren. Er besucht die 10-klassige polytechnische Oberschule, ist Mitglied bei den Jungpionieren und der Freien Deutschen Jugend. 1970 macht er eine Lehre als Bautischler, bevor er zwei Jahre später seinen Wehrdienst bei den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee ableistet. Von 1974 an arbeitet er als Bauarbeiter im Volkseigenen Betrieb „Bau- und Montagekombinat Ingenieurhochbau Berlin“ (VEB BMK IHB) und dann als Hausmeister in einer Musikhochschule. Im September 1988 siedelt er – mit einem genehmigten Ausreiseantrag – in den Westen Berlins über und ist beim Deutschen Roten Kreuz tätig. Seit 2004 unterstützt er das Jugendwiderstandsmuseum in der Galiläakirche in Berlin Friedrichshain.
Empfohlene Zitierweise:
Baumann, Lutz: Rebellische Musik in der DDR, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/lutz-baumann-rebellische-musik-in-der-ddr.html
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