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Lutz Rackow: Freiberuflicher Journalist in der DDR

Dieser Beitrag wurde von Lutz Rackow (*1932) in Berlin verfasst.

Für freiberufliche journalistische Tätigkeit als Hauptberuf wurde etwa ab 1963 [in der DDR] eine staatliche Lizenz erforderlich. Da konnte ich die dafür u.a. verlangte Mindestpraxis von zehn Jahren locker nachweisen. Dank meiner Aktivitäten neben dem heimlichen Studium an der TU [Technische Universität Berlin]. Diese [Lizenz] war natürlich auch für den Nachweis einer Erwerbsarbeit von Bedeutung. Jeder musste den Behörden angeben können wovon er lebte.

Pseudonyme unentbehrlich

Unter allen diesen für mich permanent heiklen Bedingungen brauchte ich Pseudonyme. Der West-Student als Ost-Presseautor? – Das konnte Schwierigkeiten geben. Sowohl im Osten, wie auch im Westen. Zunächst erfand ich den Autorennamen „Peter Roon“, dann „Friedrich Hagen“, „Theo Prax“, „Jürgen Redlich“, „Kurt Scheidler“ usw. Insgesamt viel mehr, als einst der verehrte Politschriftsteller Kurt Tucholsky mit Peter Panther [oder] Ignaz Wrobel in der „Weltbühne“ benutzte.

Und selbstredend wurde auch eine Postanschrift in West-Berlin für mich unentbehrlich. Dort musste die gesamte Uni-Post hin. Und natürlich auch von mir in kurzen Abständen – zeitraubend – abgeholt werden. Nicht einfach, viel innerstädtische Fahrerei. Gefährliche Studienmaterialien dabei. Telefonkontakte waren schwierig und heikel. […] Schließlich fand sich im Charlottenburger Hause einer aus Vorkriegszeiten befreundeten Familie, seit etwa 1932/33 in der Schweiz ansässig, eine erstklassige Adresse. Sogar mit Übernachtungsmöglichkeit. Und obendrein in nur wenigen Gehminuten Abstand zur TU. Wieder ein Volltreffer. Schicksalshilfen?

Europaweit mit West-Pass unterwegs

Von dort aus ließen sich auch alle folgenden Aktivitäten, von Studenten- bis Studienreisen, alle mit West-Pass , Teilnahme an Segelregatten auf westdeutschen Revieren – stets mit erster Etappe Flug ab Tempelhof – starten, von denen die SED-Behörden auf keinen Fall etwas erfahren durften.

So gedieh [das] Weststudium bis zur planmäßig absolvierten zweistufigen Diplomprüfung im Mai 1960. Von da ab begann für mich die Arbeit an einer Dissertation über Verbraucherberatung. Mit dreimonatiger Studienreise im Frühjahr 1961 nach Schweden.

Auf der Suche nach Pressekontakten geriet ich an den Chef der SDS-Parteizeitung in Malmö. Das war Prominenz. Freund und Biograf des jahrzehntelangen Ministerpräsidenten Schwedens, Tage Erlander. Der war auch neugierig zu erfahren, was einen DDR-Journalisten und Studenten in West-Berlin mit einem Pass der Bundesrepublik heimlich nach Schweden führte. Mein Interesse an Verbraucherberatung fand er erfreulich und gab mir Empfehlungen nach Stockholm mit. Dort traf ich zuerst die Zentrale der Schwedischen Konsumgenossenschaft und wurde weitergereicht. Mein Material für die Dissertation, wegen der ich unterwegs war, wurde so umfangreich, dass ich schon ein Paket nach Charlottenburg schicken musste.

Die Verbraucherberatung war in Schweden bereits seit Jahren so vorbildlich und weitreichend organisiert, wie nirgendwo anders in Europa. In der Bundesrepublik Deutschland gab es dazu noch gar nichts. Ich war also auf dem richtigen Trip. Dort war das damals, weltweit vorbildlich, vor allem über die Presse beispielgebend organisiert. In Deutschland gab es derartiges noch nicht. Ich blieb sechs Wochen in Stockholm in einem winzigen Zimmer der Heilsarmee. Dann war das Reisegeld alle. Obwohl ich vielmals gastfreundlich bewirtet worden war. Auch in der Botschaft der Bundesrepublik vom weiblichen Presse-Attachée. In etliche der damals berühmen Stockholmer Studenten-Jazzclubs wurde ich, natürlich in Besitz eines Internationalen Studentenausweises, vermittelt. Vorbehalte gegen Deutsche habe ich nirgends erlebt. Immerhin war der Krieg ja erst 16 Jahre vorüber.

Aber der spontane Kurzbesuch beim schwedischen Chefredakteur in Malmö hatte noch ein ganz und gar überraschendes Nachspiel. Und zwar mit einer bedeutsamen Dauerwirkung. Damit hatte keiner der Beteiligten rechnen können. Fortsetzung zwei Jahre später. Deshalb hier erst weiter unten.

Wieder in West-Berlin hatte ich Post aus New York. Von Ernest Dichter, ein inzwischen als Motivforscher berühmt gewordener Amerikaner jüdisch-österreichischer Abstammung. Dem hatte ich geschrieben. Er lud mich ein, sein Institut in New York zu besuchen. Meine wirtschaftswissenschaftliche Diplomarbeit hatte sich auch auf seine Forschungen berufen. Aber das ging nun wirklich nicht.

Mauerbau keine Überraschung

Drei Monate später kam dann die Mauer. An diesem 13. August 1961 segelte ich gerade seewärts von Hiddensee auf eigenem Kiel. Gleichzeitig mit Kennedy, der indessen wohl in der Karibik oder vor Cape Code unterwegs war. […]

Mich hat das Ereignis Mauerbau schon damals eigentlich nicht überrascht. Waren doch die Anzeichen seit Jahren deutlich. Kanalbau zur Umgehung West-Berlins, Eisenbahn-Außenring-Elektrifizierung im Süden der Stadt. Und dann noch vor aller Augen – sofern sie sehen wollten – der Ausbau des S-Bahnhofs Friedrichstraße zum ansonsten überflüssigen Kopfbahnhof. Alles deutliche Mauerbau-Vorbereitungen.

Mehreren Fluchtwilligen aus meiner vertrauten Bekanntschaft in Sachsen und Thüringen verhalf ich noch im Sommer 1961 dazu, unentdeckt nach West-Berlin zu kommen. Einen Segelfreund, der glaubte, ihn als West-Berliner Beamten könne keiner von seinem Job trennen, musste ich wochenlang intensiv „bearbeiten“, bis er noch wenige Tage vor dem 13. August begriff, dass es „höchste Eisenbahn“ war, abzuhauen. Seinen alten Segelkahn an unserem Steg versenkten wir später auf dem Müggelsee. Noch fast ein Jahr lang dankte er mir für meine beharrliche Beratung mit Kaffee im Geschenkpaket.

Notgedrungen vogelfreier Journalist

Vorwiegend aus dringlichsten familiären Gründen bin ich dennoch weiter im Familienhaus an der Spree geblieben, bin nicht „abgehauen“. Habe die Dissertation bei der TU Charlottenburg nicht zum Ende gebracht. Vielmehr meine labil etablierte, „vogelfreie“ journalistische Tätigkeit weiter ausgebaut. Mit schließlich acht Pseudonymen für ca. 15 ständige Artikel-Abnehmer, von Fach- bis Tagespresse und Illustrierten. Außer für „Neues Deutschland“, der zentralen SED-Postille.

Allen lieferte ich politfernen „Lesestoff“, samt Fotos und Grafiken. Im Rundfunk wurde ich als Plauder-Partner über touristische Themen im Nachtprogramm eingesetzt. Nur vom Fernsehen, von dem ich als externer Redakteur der populären Sendung „Verkehrsmagazin“ bald nach dem Mauerbau engagiert worden war, wurde ich wegen Verheimlichung des Weststudiums nach einem Jahr vertrieben.

Für Westkontakte eingesetzt

Das hinderte aber glücklicherweise den DDR-Journalistenverband VDJ nicht daran, mich in einem neuen Programm einzusetzen, das der Gewinnung von internationalem Ansehen für den Staat DDR gewidmet war. Dazu wurden Journalisten aus der Bundesrepublik und aus einer Reihe meist westlicher Länder zu Reisen durchs Land eingeladen. Nicht nur Kommunisten, wie aus Indien, USA, Frankreich oder Polen. Journalistische Begleiter wurden dafür gebraucht. Möglichst mit Fremdsprachen-Kenntnissen und eigenem Auto.

Die Redaktionen im Lande konnten für solche Sondereinsätze keine Kräfte entbehren. So besann man sich erstmals der kleinen Schar Freiberufler, die nach jahrelanger Missachtung und Ausgrenzung noch in der DDR geblieben waren.

Ich hatte also einen neuen Teil-Job und eines Tages wurden skandinavische Gäste angekündigt. Heureka! Im neuen Hotel „Berolina“ traf ich beim Frühstück – na wen wohl? – „meinen“ Chefredakteur aus Malmö, Alvar Alsterdal. Es kostete einige Mühe ihn davon zu überzeugen, dass ihm in mir kein besonders abgefeimter Stasi-Agent angedient wurde, sondern er von mir alle Wahrheiten über die DDR erfuhr, die mir bekannt waren und wurden. Und das waren viele.

Jahrelang gondelten wir beide von einem prominenten Interviewpartner, vermittelt durch die internationale Abteilung des VDJ, zum anderen. […] Für seine Interviews bastelten wir heikle Fragen. Dabei stellte sich heraus, dass nicht wenige gerne die Gelegenheit nutzten, ihr Herz über politisch verursachte Sorgen auszuschütten. Oder Kontakte nach Schweden zu knüpfen. Wie z.B. der attraktive Stefan Hermlin, der gerne mit seiner jungen russischen Frau nach Schweden zu einer Lesung aus seinen Werken eingeladen worden wäre. Bei solchen Gesprächen zog ich mich natürlich dezent zurück, um die Erzählfreude der Kontaktpersonen nicht zu bremsen.

Peinlich in der „Roten Fahne“

Ein Chefingenieur in Karl-Marx-Stadt, wertvolle Kraft im international hoch angesehenen Institut für Werkzeugmaschinenbau, wusste zu berichten, dass er mit seiner Frau auf dem Flughafen Schönefeld beim beabsichtigten Start in die ihm zugeteilte Reise an die Adriaküste Jugoslawiens stattdessen in das sowjetische Schwarzmeer-Seebad Sotschi umgeleitet wurde.

Die Historiker im Partei-Institut für die Geschichte des Marxismus-Leninismus brachte er [Alvar Alsterdal] mit Eigenmaterial in Verlegenheit. Denen hatte [er] die Kopie eines Zeitungsausschnitts aus dem Parteiorgan „Rote Fahne“ der frühen zwanziger Jahre mitgebracht. Da war zu lesen, dass damals kein geringerer als der höchste SED-Genosse der DDR, Walter Ulbricht, seinen Lesern empfohlen hatte, sich für den Anschluss Deutschlands an die bolschewistische Sowjetunion einzusetzen. Und das nicht genug der Peinlichkeit, [war] ausgerechnet dieser Artikel in den jüngst erschienenen „Gesammelten Werken“ des Partei- und Staatsführers nicht enthalten […].

Alsterdal wurde Dauergast in der DDR und verlangte bei Rundfahrten, mit und ohne Fahrplan der Behörden, nur von mir begleitet zu werden. Auch, als er später hochrangig an der schwedischen Botschaft in Bonn mit Arrangements des Bundespresseamtes mit Diplomatenpass jederzeit „freien Eintritt“ nach Ost-Berlin hatte. In Bonn verkehrte er u.a. bei Herbert Wehner und konnte dem und ebenso seinem Nachbarn, dem Botschafter Israels, berichten, was auch ich ihm als wichtig mit auf den Heimweg gab. Und natürlich auch meine Post in die Schweiz und USA unkontrollierbar auf den freien Weg bringen, mitunter Antworten bei Gelegenheit wieder zurück.

Stasi ausgetrickst

Das konnten auch die Stasi-Spezialisten des Markus Wolf nicht recherchieren. Besonders heikle Gespräche wurden von uns unabhörbar auf dem Ruderboot mitten auf dem Müggelsee geführt. Alsterdal schrieb übrigens auch als Diplomat noch für schwedische und westdeutsche Zeitungen.

Eines Tages nahm er mit dem schwedischen Botschafter in der DDR auf unserem Sofa Platz. Ebenso wie zuvor mit dem persönlichen Referenten des 1986 in Stockholm auf offener Straße erschossenen, hoch angesehenen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Olof Palme, zu dessen Freundeskreis Alsterdal gehörte.

So konnte ich mit etlichen ausländischen Journalisten, die sich auch später noch bei mir einfanden, bedenkenlos vertraulich umgehen, ohne mir den Vorwurf der von den DDR-Justiz hoch strafbedrohten illegalen Kontaktaufnahme einzuhandeln. Stasi ausgetrickst.

Und nun ein großer Sprung über den Mauerfall hinweg. Auch der kündigte sich für sensible Beobachter in Berlin, leider nicht in Bonn, auf vielfältige Weise an, nachdem Gorbatschow die sowjetische Weltpolitik fundamental veränderte. […]

Tätigkeiten nach der Wiedervereinigung

Meine Kenntnisgewinne aus […] meinem in gewisser Weise „Studium generale“ in West-Berlin erwiesen sich in diesen Jahren und bis heute auch als ein alltagsnützliches Bildungsgut. In mannigfaltiger Hinsicht weitreichender und den Tatsachen näher, als ich es zuhause hätte lernen können. Bei meiner vielfältigen Autorenschaft über die zunächst 29 Jahre vor dem Mauerfall und danach, wurde das recht nützlich. Ebenso wie für die spätere Beratungstätigkeit ab 1992 als [Berater] einer großen deutsche Stiftung, u.a. bei der Zielsetzung für Millionen von Fördermitteln. Dort entwarf, recherchierte, entwickelte und begleitete ich zunächst ein Förderprogramm „Orte deutscher Geschichte“. Mit den Schauplätzen „Kesselschlacht bei Halbe – das Stalingrad vor der Reichshauptstadt“. Es hatte sich mir gezeigt, dass dieses extreme Wahnsinnsereignis der letzten Kriegstage im Bewusstsein westdeutscher Öffentlichkeit fast verschwunden war.

Auch die Förderung der musealen Sicherung des „Mittelbau Dora“, des KZ im Felsen bei Nordhausen, wo Häftlinge die Raketen des Freiherrn Wernher v. Braun zusammenschrauben mussten, wurde von mir erfolgreich empfohlen. Schließlich folgte die Sicherung und Renovierung von Schloss Neuhardenberg, wo deutsche Geschichte vom preußischen Reformer bis zum Widerstand gegen das NS-Regime stattfand, meiner Recherche und Empfehlung.

Daraus entwickelte sich dann ein Gesamtprogramm mit weiteren Themen, zu dem schließlich eine Ausstellung auf eine Rundreise durch die Parlamente aller deutschen Landtage gebracht wurde. Auch die wichtigste, uns noch verbliebene, deutsche Renaissance-Stadt, Görlitz, empfahl ich zum Nutzen der Stadt-Renovierung für weitere bedeutende Fördermittel aus der größten deutschen Privatstiftung in Stuttgart.

Erst Erwerbsarbeit, dann Ehrenamt

Es folgten Initiativen und Beratung in einem Programm „Soziale Bürgerinitiativen“, Förderungen vielfältiger ehrenamtlicher Engagements mit bedeutenden finanziellen Zuwendungen. Dabei ergab es sich indessen, dass in Ostdeutschland wegen der plötzlich massenhaften Beschäftigungslosigkeiten das Hauptinteresse natürlich erst einmal auf die Gewinnung von Arbeitseinkünften gerichtet war.

Zur Person

Lutz Rackow wird am 10. Juni 1932 in Berlin geboren und wächst in Berlin-Friedrichshagen auf. Nach seinem Abitur ist er von 1951 bis 1956 zunächst als Volontär und später als Redakteur bei der Ost-Berliner LDPD-Tageszeitung „Der Morgen“ tätig. Von 1956 bis 1960 studiert er an der Technischen Universität in West-Berlin die Fächer Wirtschaft, Geschichte und Psychologie. Anschließend arbeitet er als freier Journalist zu den Themen Technik, Verkehr und Tourismus für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften sowie für den Rundfunk und das Fernsehen in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland. Von 1993 bis 1997 ist er als Berater der Robert-Bosch-Stiftung für Förderprogramme in Ostdeutschland tätig. Lutz Rackow lebt bis heute in seinem Geburtshaus in Berlin-Friedrichshagen. Er engagiert sich als Zeitzeuge und berichtet in Interviews, Vorträgen und Veröffentlichungen von seinen Erlebnissen.

Empfohlene Zitierweise:
Rackow, Lutz: Freiberuflicher Journalist in der DDR in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/lutz-rackow-freiberuflicher-journalist-in-der-ddr.html
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