Dieser Beitrag wurde von Lutz Rackow (*1932) in Berlin verfasst.
„Warum wollen Sie denn weg?“ staunte Verlagsleiter Weinschenk, als ich ihm bei „Der Morgen“, dem Zentralorgan der Ostdeutschen LDPD [Liberal-Demokratische Partei Deutschlands] in der Taubenstraße, Berlin W 8, meine Kündigung auf den Tisch legte. „Sie könnten doch hier in ein paar Jahren Chefredakteur werden.“ Immerhin hatte ich bis dahin eine „Blitzkarriere“ in der Redaktion gemacht. Ende 1950 begann ich dort als Volontär (für brutto 200,- Ostmark [monatlich]) und war nach drei Jahren nun schon „Wirtschaftsredakteur“.
Der Ahnungslose! Alle Hoffnungen auf eine Beendigung der brutalen Sowjetisierungspolitik Ostdeutschlands durch die SED-Administration, wie sie nach dem Tod Stalins und dem Volksaufbegehren vom 17. Juni 1953 vorübergehend aufkeimten, zerbröselten schon längst wieder. Allenthalben und immer mehr. Selbst kommunistisch verdienstvolle, altgediente KPD-Kämpfer, die neuerdings eine zumindest gewisse Entstalinisierung eingefordert oder auch nur empfohlen hatten, wurden in jüngster Zeit wieder eingelocht oder eiskalt abgestellt. Führende LDPD- und CDU-Amtsträger und Minister, wie Hamann und Dertinger, eingesperrt. Keine Demokratisierung, sondern das Gegenteil.
Enttäuschung über die Verhältnisse in der Redaktion
In der Redaktion, in der ich unmittelbar nach dem Abitur mit hoffnungsvollen liberalen Ambitionen für ein neu geeintes, demokratisches Deutschland damit begonnen hatte, das journalistische Handwerk zu lernen, waberten inzwischen immer unappetitlicher, ängstlicher Opportunismus und Misstrauen. Undurchsichtiges Getue allenthalben und offensichtliche Ausforschungen und Denunziationen. Auch die Chefs unsicher und undurchsichtiger. Bis auf den Nachrichtenredakteur Lewerenz hatten in jüngerer Zeit alle in West-Berlin wohnenden Redakteure „das Weite“ zu ihrem Wohnsitz gesucht. So [auch] der aufmüpfige Frege, der in den täglichen Redaktionskonferenzen unbequeme Bemerkungen machte. Vor seinem Weggang hatte er mir noch heimlich anvertraut, dass er vor seinem Morgen-Job zunächst beim RIAS seine journalistischen Talente erprobte. Natürlich ohne das dann in seiner folgenden Bewerbung beim „Morgen“ preiszugeben. Liberale Partei und liberale Zeitung? – nur noch schlecht getarnte Veranstaltungen, eher Leimruten für Regime-Skeptiker.
Entführungen auf offener Straße
An meinem Wohnort war der beliebte LDPD-Ortsvorsitzende, als erfrischend aufmüpfig sehr beliebt, eines Tages spurlos verschwunden. Hier und dort auch heimliche Verhaftungen. Noch immer. Das war die Zeit, als selbst in West-Berlin missliebige DDR-Gegner auf offener Straße gekidnappt und in Stasi-Haft entführt wurden, eingelocht und später in Moskau heimlich erschossen. Was erst nach dem Mauerfall, über 40 Jahre später, auch im Osten bekannt wurde
Als Westagent verdächtigt
[Dass ein IM der Staatssicherheit auch mich,] den Jungredakteur Rackow bei seinen Oberschnüfflern bereits mehrfach als möglichen Westagenten angeschwärzt hatte, wurde mir natürlich ebenfalls erst dokumentarisch offenbar, als ich 1993 in der Stasi-Zentrale Normannenstraße in der mich betreffenden, fast 1000 Seiten umfassenden Überwachungsakte stöbern konnte. Und außerdem lesen konnte, wie aus meiner privaten „Westkorrespondenz“, Briefen in und aus der Schweiz, nach West-Berlin, München, Hanau, Köln, USA und Schweden, ein emsiger Stasi-Adlatus ein grafisches Netzwerk gebastelt hatte. Darin war ich wie eine Spinne im Zentrum eingezeichnet. Ein Konvolut von Kopien meiner ein- und ausgehenden Post. Und zahlreiche Einzelberichte von Nachbarn, Bekannten aus Segler- und Journalistenkreisen füllten Dutzende Seiten der Akte. Namen alle geschwärzt, aber etliche der „Berichterstatter“ für mich dennoch leicht erkennbar.
Ob es der Netzwerk-Zeichner gewesen war, dem es eingefallen war, mich als BND-Spion 234 zu verdächtigen? Entsprechende Fahndungsanweisungen waren schließlich immerhin von einem General der Stasi unterzeichnet worden, sehr heikel. Und dann aber per Aktennotiz als „Unbegründet“ wieder abgeblasen worden. Aber das geschah fast alles erst nach dem Mauerbau.
Beim „Morgen“ gab es auch einen IM, [ein] vormaliger Wehrmachtoffizier, Archivleiter unter dem Dach, der mich schützende Berichte geschrieben hatte. Offensichtlich auf spezielle Anforderung. Als es nach dem 17. Juni 1953 unter den Volontären der Redaktion eine Weile deutlich rumorte. „Ich hätte mich inzwischen wieder beruhigt“, ist darin zu lesen.
„Morgen“-Abgang in Etappen
Meinen Morgen-Abgang hatte ich vorbereitet. Zunächst formal ein Abendstudium an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität begonnen. Aufnahme dort mit Empfehlung des „Morgen“. Langweilig, reine sozialistische Buchhaltungskunde. Schließlich hatte ich ja, wenn auch als inzwischen „Wirtschaftsredakteur“ tätig, tatsächlich kaum Ahnung vom gesamten Metier.
Nunmehr werkelte ich im Zweitjob als Pressereferent bei der Ost-Berliner Industrie- und Handelskammer, der Beaufsichtigungsorganisation für die Reste der Privatwirtschaft. Dabei [war ich] auch mit der Redaktion eines Mitteilungsblattes befasst. In jenem Hause wurde ich bei den Mitarbeitern alsbald deshalb beliebt, weil ich für veröffentlichte Beiträge zum Mitteilungsblättchen vergleichsweise opulente Honorarsätze erreichen konnte. Mehr als „Der Morgen“ als zentrale Tageszeitung zahlte. Das beflügelte die Schreiblust der IHK-Bürokraten am Hackeschen Markt.
Währenddessen lief bereits meine Bewerbung um einen Studienplatz an der TU in Berlin-Charlottenburg, also im Westen. Eigentlich war mir an einem „Studium generale“ gelegen. Wollte ich doch meine liberale Gesinnung gegen den Ansturm der angeblich wissenschaftlich untermauerten sozialistischen, historisch überlegenen Lehre à la Marx-Engels-Lenin endlich auch mit soliden Kenntnissenn belegen (Stalin war inzwischen, alsbald nach seinem Tod, aus dem Kreis der Säulenheiligen der kommunistischen Beglückungs-Ideologie gestrichen worden). Fühlte ich mich doch seit Kindesbeinen als „homo politicus“, der aber vom „homo öconomicus“ noch nicht viel wusste.
Politausflug vor dem Abi
Der spezielle Wissensdurst war schon kurz vor dem Abitur in Ost-Berlin aufgekommen. Damals hatte ich in der Sybelstraße in Charlottenburg als jüngster Teilnehmer das Einführungssemester der neu gegründeten „Hochschule für Politik“ besucht. Daraus wurde später das „Otto-Suhr-Institut der Freien Universität“. Neben Otto Suhr selbst lehrten uns im Frühjahr 1950 eine Elite-Auswahl der neuen demokratischen Szene, wie u.a. Prof. Landsberg (vor der Stadtspaltung Präsident der Magistratsversammlung), v. Eynern, v.d. Gablenz [oder] der Zeitungswissenschaftler Dofivat, was demokratisches Denken ist. Und dann auch freies Fragen und Reden.
Wäre dieser geheime Exkurs [von mir, dem] Ost-Berliner Abiturienten L[utz] R[ackow], damals den täglich politisch schärfer agierenden Schulbehörden zu Ohren gekommen, so wäre ich noch „kurz vor Ultimo“ wieder aus der Schule geflogen. Wie schon zweimal zuvor. Einmal 1944 bei den Nazis und wieder 1946 in Friedrichshagen. Beide Male aus ähnlichen Gründen: Mangelnde Subordination unter die jeweiligen obrigkeitlichen Ansprüche auf ideologische Deutungshoheit. Im NS-Staat verbunden mit dem Vorwurf, feindliche Flugblätter, gefunden nach Luftangriffen, nicht vorschriftsgemäß abgeliefert zu haben. Im NS-Staat mit schweren Strafen bedroht. Bei den Kommunisten, weil ich blinde Regimetreue als Quelle der Übel darstellte, die Krieg und damit auch die aktuelle deutsche Nachkriegsmisere verschuldete. Meine Mitschüler kuschten vorwiegend, einige denunzierten.
Von jetzt ab „parteifrei“ für immer
Nun also Technische Universität Berlin-Charlottenburg! Wie 30 Jahre [zuvor] mein inzwischen an der Ostfront gefallener Onkel und 40 Jahre später mein Sohn Yorck. Inzwischen hatte ich natürlich auch die frustrierende Mitgliedschaft in der LDPD „an den Nagel gehängt“. Nunmehr „parteifrei“ für immer!
In den Hörsälen an der „Straße des 17. Juni“ bekam ich es erst einmal mit einem dreisemestrigen humanistischen Grundstudium zu tun. Ein wahrhaft segensreiches Präventions-Programm, das der in der unmittelbaren unseligen Vergangenheit einseitigen akademischen Ausbildung von, wie es damals hieß, „Fachidioten“ vorbeugen sollte.
Demgemäß war auch „Geschichte“ als Hauptfach mit dabei. Prima! Diesen Lehrstuhl hatte Prof. v. Rantzau inne. Aus der berühmten holsteinschen Familie, aus der auch der tragisch umstrittene, zeitweilige deutsche Außenminister stammte, der in Paris nach dem ersten Weltkrieg die schwere Last der Waffenstillstandsverhandlungen führen musste.
Natürlich hörte ich bei v. Rantzau, weit über das vorgeschriebene Maß mit Engagement und Ergriffenheit, vor allem über die Weimarer Republik und das Aufkommen der Nazis. Speziell zur Gleichschaltung der Reichswehr, über Hindenburg, Ermächtigungsgesetz usw.
Mittagessen im Osten
Dabei war ich noch immer halbtags bei der IHK-Ost-Berlin, fuhr von Charlottenburg, gerne über Mittagszeiten die paar S-Bahn-Stationen zum preiswerten Ost-Berliner Kantinenessen am Hackeschen Markt. Trieb dabei dort in meinem Redaktionsstübchen „Gesichtspflege“, ließ mich also blicken … Vor allem „Redaktionsarbeit“ für das Kammer-Blättchen wurde dann schließlich in den Abendstunden zuhause erledigt.
Der SED-Vorgesetzte, „Kammer-Präsident“ Hoffmann, wähnte mich als Student in der Wiwifak (Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät) der Humboldt-Uni. Erfuhr also selbstverständlich nicht, dass ich in Wirklichkeit in West-Berlin studierte. So etwas war nur in der Großstadt möglich, in der nach wie vor unter dem Schutz eines Viermächte-Status der Alliierten täglich Hunderttausende hinüber und herüber unterwegs waren. Dieser „Schutz“ kam den Verwandten in allen Stadtteilen und weiterhin auch denjenigen zugute, die noch als Beschäftigte oder sogar Gewerbetreibende im jeweils anderen Teil der Stadt in Lohn und Brot standen.
Und ebenso den Schülern und auch Studenten, die aus Ost-Berlin oder Brandenburg vorwiegend Gymnasien, Fach- und Hochschulen in West-Berlin besuchten. Den meisten von ihnen war im Osten zuvor der Zugang zu höheren Bildungswegen verweigert worden, weil den Genehmigungsbehörden in regimegemäßer Anmaßung die familiäre Herkunft der Bewerber nicht passte. Und wenn sie noch so gute Zeugnisse hatten. Klassenkampf eben. So ging das noch bis zum Mauerbau weiter.
Fluchtgepäck im Kellergang
Diese Ausweichhilfe für Schüler und Studenten wurde natürlich von der SED agitatorisch verleumdet. Die „Freie Universität“ im West-Berliner Bezirk Zehlendorf/Dahlem, die nach Abspaltung von der Humboldt-Universität Unter den Linden gegründet worden war, [wurde] als „Agentenschule“ drohend verunglimpft. Dagegen hieß es als Gerücht, an der TU seien sogar die Abkömmlinge einiger prominenter SED-Politniks immatrikuliert. Gemunkelt wurde von einer Grothewohl-Tochter namens Madelaine. So etwas konnte eventuell als Schutzargument nützlich sein, wenn es mal „hart auf hart“ kam.
Immerhin hatte ich mir inzwischen auch aus meinem soeben errichteten ebenerdigen Ein-Zimmer-Anbau an das Elternhaus einen „Fluchtweg“ eingerichtet. Über eine Klappe im Fußboden, dann in den Keller, wo ein kleines Fluchtgepäck, auch mit etwas Ost- und Westgeld deponiert war. Luftschutzerfahrung eben.
Praktikant beim Ullstein-Verlag
Meinen nunmehrigen Doppel-Job, Uni West, IHK Ost (mit günstiger Kantine) musste ich aufgeben, als mit beginnendem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der TU von dort ein ganztägiges „kaufmännisches Praktikum“ verlangt wurde. Meine vormalige Tätigkeit als „Wirtschaftsredakteur“ galt als nicht ausreichend.
Dafür bewarb ich mich – ausgerechnet – beim Ullstein-Verlag (erst später zum Springer-Verlag gehörig) in Tempelhof und landete dabei in der Vertriebsabteilung. Mit Ersteinsatz als Buchverkäufer und Handlanger in der Zweigstelle des Verlages am Hermannplatz. Dort wurden die „Morgenpost“, die Zeitschrift „Brigitte“, das Magazin „hobby“ und Ullstein-Bücher regional vertrieben. Dazu musste ich lernen, Bücher ordentlich einzupacken. Das klappte aber nie.
Nächste Station: Vertriebsbuchhaltung, im Ullstein-Reisebüro usw. Zum Glück immer unter fürsorglicher Obhut des Vertriebs-Chefs Bredow, einer Vertrauensperson des damaligen Verlagschefs. Das war [zu der Zeit ] Heinz Ullstein aus der ursprünglichen, jüdischen Eigentümerfamilie. […]Dieser [Bredow] fand es spannend, was ich bis dahin so abenteuerlich getrieben hatte und plauderte mit mir stundenlang in seinem Büro. Ich erfuhr, er wohne auf Betriebskosten nahebei komfortabel in einer schönen Villa, hatte wohl auch privilegiert einen persönlichen Dienstwagen. Dennoch müsse er etwa 50 Prozent seiner Arbeitszeit darauf verwenden, „seinen Posten zu halten“.
Visionäre im Ullstein-Archiv
Bredows Wohlwollen hatte ich es zu danken, dass ich schließlich die meiste Zeit meines Ullstein-Praktikums im herrlich umfangreichen Pressearchiv des Hauses verbringen durfte, das wundersam den Krieg überlebt hatte. Dort fand ich auch auf mich sensationell wirkende Artikel aus der Zeit vor und beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In wahrhaft seherischer Art hatten prominente Autoren, wohl vor allem im Ullsteinschen „Intelligenzblatt“ „Vossische Zeitung“, den mutmaßlichen Verlauf und die Folgen des drohenden Krieges vorhergesagt. Den Anfang der ganzen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die bis heute nachwirkt, in vielen Einzelheiten und als Gesamtereignis prognostiziert. Zeitzeugen der Extraklasse, meist jüdischer Abkunft, wie z.B. Theodor Wolff.
Für mich war das ein Geschichtsunterricht besonderer Intensität. Mit diesen Kenntnissen konnte ich selbstredend auch an der TU in Seminaren von Prof. v. Rantzau besondere Kenntnisse beweisen und damit Eintritt in einen privaten Kreis von Hobby-Historikern erlangen, [der] sich im Hause des Professors im Grunewald-Viertel traf. Später ließ sich [v.] R[antzau] von mir auch monatelang die SED-Postille „Neues Deutschland“ (Format wie das vormalige NS-Zentralorgan „Völkischer Beobachter“) mitbringen. Auch die „Tägliche Rundschau“, direkt von der Sowjetischen Besatzungsmacht geführt, politisch maßgebender, journalistisch besser gemacht, fand sein Interesse.
Erste Tätigkeiten als freiberuflicher Journalist in der DDR
Ein Volltreffer war für mich auch die Beziehung zum Remittenten-Archiv des Ullstein-Verlages, wo auch die Restexemplare des Magazins „Hobby“ landeten. Dort durfte ich kostenlos Exemplare entnehmen. Das Magazin erwies sich als eine Fundgrube für Basteleien und technische Anleitungen für Selbsthilfe aller Art, über populäre Neuerungen, darunter auch aus dem Kfz-Bereich.
Neben Uni, Praktikum und anfangs noch IHK hatte ich nämlich meine vormaligen Einblicke und auch Kontakte zur DDR-Presse genutzt. Ich musste ja auch in der Lage sein, eine Erwerbstätigkeit im Osten auszuüben und nachzuweisen. So begann ich in größerem Umfang einigen Redaktionen, vor allem dem „Morgen“, der „Neuen Zeit“ aber auch der „Jungen Welt“ der FDJ und der „Berliner Zeitung“, dem „Illustrierten Motorsport“, dem „Segelsport“ und dem „Deutschen Straßenverkehr“ Artikel aus diesem und weiteren Sachgebieten ähnlicher Politikferne zu liefern.
Wie mir aus meiner Presse-Praxis ja gut bekannt war, interessierten sich eigentlich alle Ost-Berliner Redaktionen in deutlichem Abstand zu den verordneten und uniformen Polittexten, für sogenannten Lesestoff. Das waren […] vor allem Berichte und Betrachtungen über Sport, Haus und Garten, Gesundheit, Philatelie, allgemeines Feuilleton mit Kultur und Fortsetzungsromanen u.ä. und eben über Freizeit. Mit der allmählich zunehmenden Motorisierung, auch zu Straßenverkehrsthemen aller Art.
Westinfos für die Ostmagazine
Dafür gab es nur wenige Autoren. PR-Materialien aus der Wirtschaft fehlten völlig. Dazu wurden wohl auch Journalisten in der Fakultät in Leipzig, „Rotes Kloster“ genannt, nicht ausgebildet. Aus Staat, Wirtschaft und Gesellschaft kamen vor allem Berichte von „Heldentaten“ sozialistischer Brigaden in Industrie und Landwirtschaft, freiwillige Hilfsleistungen von allerlei Kollektiven, die dort einsprangen, wo das System es nötig hatte, um die nie endenden Engpässe aller Art zu mildern.
Regimetypische Geheimnistuerei tat dazu sein Übriges. Was nicht als angewiesen in der Zeitung stand, das konnte auch Verfassern und Quellen keinen Ärger oder sogar Verratsverdacht an den Hals bringen. Was auf diesem Gebiet dennoch möglich war, wo auf Grenzen und Tabus zu achten war, das hatte ich im „Morgen“ mitbekommen, konnte es jeweils nach aktuellen Bedarfslagen und jeweils politisch neu verminten Bereichen orten. Außerdem ging es auch um Stilfragen. Keine Belehrungstöne, Fachkauderwelsch, Politvokabeln in den Texten. Stattdessen eher solides Bildungsdeutsch, höfliche Leseransprache, nachbarliche Beratung.
Das kam bei den Lesern an, diente natürlich auch der Leserakzeptanz der jeweiligen Zeitung. Und wurde deshalb auch gerne von externen Autoren angenommen. Den erforderlichen Sachverstand gewann ich autodidaktisch aus eigener Motorrad-Praxis und ost- und westdeutscher Fach- und Beratungsliteratur. Sehr geeignet [waren] auch DDR-Berufsbildungsschriften, die umgangssprachlich zu interpretieren waren. Auch Reparatur- und Betriebsanleitungen [sowie] Pressedienste westdeutscher Kfz-Produzenten waren nützlich.[…]
Zur Person
Lutz Rackow wird am 10. Juni 1932 in Berlin geboren und wächst in Berlin-Friedrichshagen auf. Nach seinem Abitur ist er von 1951 bis 1956 zunächst als Volontär und später als Redakteur bei der Ost-Berliner LDPD-Tageszeitung „Der Morgen“ tätig. Von 1956 bis 1960 studiert er an der Technischen Universität in West-Berlin die Fächer Wirtschaft, Geschichte und Psychologie. Anschließend arbeitet er als freier Journalist zu den Themen Technik, Verkehr und Tourismus für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften sowie für den Rundfunk und das Fernsehen in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland. Von 1993 bis 1997 ist er als Berater der Robert-Bosch-Stiftung für Förderprogramme in Ostdeutschland tätig. Lutz Rackow lebt bis heute in seinem Geburtshaus in Berlin-Friedrichshagen. Er engagiert sich als Zeitzeuge und berichtet in Interviews, Vorträgen und Veröffentlichungen von seinen Erlebnissen.
Empfohlene Zitierweise:
Rackow, Lutz: Mehrgleisig in Berlin. Berufs- und Lebensweg in der geteilten Stadt in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/lutz-rackow-mehrgleisig-in-berlin.html
Zuletzt besucht am: 08.11.2024