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Michael Nagel: Palast der Tränen

Dieser Eintrag stammt von Michael Nagel aus Berlin, Juli 2012. Dieser Beitrag entstand anlässlich der Erinnerung an den Bau des Tränenpalastes vor 50 Jahren. Im Juli 2012 lud die Stiftung Haus der Geschichte Zeitzeugen ein, um ihre persönliche Geschichte im Zusammenhang mit der Grenzübergangstelle zwischen Ost- und West-Berlin zu hören und zu sammeln.

Palast der Tränen

Mit der Regelung des innerdeutschen Reiseverkehrs durch das zwischen Egon Bahr (West) und Michael Kohl (Ost) unterzeichnete Abkommen für Besucher aus Westdeutschland und Westberlin in den anderen Teil Deutschlands, war im Ostteil der Stadt, nordwärts des U-,S- und Fernbahnhofs Friedrichstraße, ein gläsernes Abfertigungshaus entstanden. Im Volksmund der Berliner als "Palast der Tränen" bezeichnet, hatten ihn jene, die Ostdeutschland mit der Reichs- oder S-Bahn Richtung Westberlin oder Westdeutschland verließen, also Rentner und Personen, die eine Sondergenehmigung zur Fahrt in den Westen besaßen, aber auch westdeutsche Besucher in der DDR, kontrollmäßig zu durchschreiten. In dem elenden "Glaskasten der deutschen Teilung" an der Spree konnte von aufmerksamen Bürgern, die Besuch aus dem Westen oder dem Westteil Berlins erhielten und dort wieder ausreisen mussten, gut beobachtet werden, wie nach der Mauerziehung auf Ostberliner Seite planmäßig Menschenverachtung betrieben wurde. Anfangs durften Gastgeber, die Freunde oder Verwandte verabschiedeten, noch innerhalb des Tränenpalastes über die Treppe bis unten an die Abfertigungsschalter der Grenzer treten. War der Besuch durch die Kontrolle und lief durch den langen Verbindungsgang zur U-, S- und Fernbahn, konnte man ihm noch eine ganze Weile nachwinken.

“Herzzereißende Szenen“

Herzzerreißende Szenen spielten sich davor und auf der Treppe ab. Das ging den Grenzsoldaten schnell auf die Nerven. Deshalb setzte man bald eine Absperrung am Fuße der von oben herabführenden Treppe. Nun war hier Schluss für Besuchte, ohne dass sich die Abschiedszeremonie und die begleitenden Umstände änderten. Also stand eines Tages die Sperre für Besuchte nicht mehr unten, sondern bereits oben vor dem Treppenabgang. Längeres Nachwinken war ab da passé. Doch noch immer schien es den Grenzsoldaten nicht genug des grausamen Spiels gewesen zu sein. Eines Tages durfte überhaupt kein Besucher mehr in das sozialistische Treibhaus treten. Vor dem Eingang wurde durch Verlangen des Reisepasses bereits nach Gut und Böse selektiert. Der schlechte Bürger durfte ausreisen, der gute Bürger hatte nach Wolfgang Borcherts Drama "Draußen vor der Tür" zu bleiben. Das Verabschieden von Verwandten spielte sich ab da bei Wind und Wetter kalt und herzlos unter freiem Himmel ab. Bis in den kleinsten Winkel der Staatsmacht war - gerade sichtbar an diesem Ort der brutalen Teilung Deutschlands - öffentlich spürbar geworden: Regierende und uniformierte Helfer hatten sich in der DDR zu einem herzlosen Pack entwickelt.

Das „gläserne Mistbeet“

Für Rosemarie war es schon ein komisches Gefühl. Statt wie sonst vor der "elenden Hütte" Abschied zu nehmen, durfte sie erstmals das "gläserne Mistbeet" durchschreiten. Eine Ausnahme, denn Bruder Oskar war in Dortmund (amtsärztlich bescheinigt) lebensgefährlich erkrankt. Zuvor musste sie sich von der Kaderabteilung im Betrieb die Fahrt genehmigen lassen und damit im Präsidium einen mehrfachen Reiseantrag ausfüllen, um das Visum in ihrem Reisepass zu erhalten. Nach Visaerteilung waren Zählkarten auszufüllen, Hin- und Rückfahrkarten und eine Platzkarte am Sonderschalter im "Haus des Reisens" durch Vorzeigen des DDR-Reisepasses mit dem Visum zu kaufen. In den Westen mitzunehmende Geschenke und mitgeführte Ostmark mussten sorgsam aufgelistet werden. Das alles für eine normale Bahnfahrt in den Westen, bei der Rosemaries Restfamilie aus Pankow wie selbstverständlich in Sippenhaft zurück blieb und nur sie allein fahren durfte. Verschrieb man bei der Volkspolizei ein Formular oder füllte es falsch aus, gab es gleich ein Ausgemecker. Während sich beim neu erbetenen Vordruck in der VP-Dienststelle derart gebärdet wurde, als würde ihnen der lächerliche Wisch vom Gehalt abgezogen. Ob auf Meldestellen, im Präsidium der Volkspolizei, im Ministerium des Innern oder wie hier bei der Kontrolle im "Tränenhaus"; stets kam sich der DDR-Bürger vor, als hätte er etwas verbrochen. Deshalb zitterten die Rentnerinnen, die meist allein und mit schwerem Gepäck die Treppen des "Glaskastens" herabstiegen, auch oft schweißnass am ganzen Körper. Nicht nur vom alleinigen Kofferschleppen, auch aus Angst vor den Machtorganen mit drei bevorstehenden Kontrollen bis nach Marienborn! Dabei gab es allen Ernstes einen zuverlässigen DDR-Kofferträger, der für Westmark einer eleganten Westbesucherin den Koffer bis zum Bahnsteig Richtung Westdeutschland tragen durfte.

Keine Zählkarte bedeutete gleich: Republikflucht

Rosemarie sah, dass eine ältere Dame im Reisefieber vergessen hatte, ihre Zählkarten für Hin- und Rückreise auszufüllen. Fehlte in der Bilanz einer für DDR-Bürger stets zeitlich begrenzten Ausreise die Rückreise-Zählkarte, weil derjenige nach Ablauf damit nicht wieder eingereist war, also nicht abgab, wurde zwangsläufig Republikflucht festgestellt! Rosemarie waren schon beim Ausfüllen der beiden Karten Gedanken an den irren Kontrollaufwand gekommen. Während der Grenzer die Dame mit ihrem Koffer in eine Ecke zum Ausfüllen der Karten verwies, sagte sie "Ach du jroßer Jott?". Sie hatte auf die Schnelle nichts zum Schreiben dabei und Sorge, der Zug könnte ihr vor der Nase abfahren. "Kommen Sie!", tröstete Rosemarie, die sah, dass noch genügend Zeit war und einen Kugelschreiber zückte, um ihr beim Ausfüllen zu helfen. Da schaute die Rentnerin sie so unendlich dankbar und vielsagend mit zusammengekniffenen Mundwinkeln an! Ein Grenzer aber, der sah, dass Rosemarie ihr half, schrie lauthals zum gegenüber sitzenden Grenzkumpan: "Weesste wat, wo Berlin liejen tut, det wissen se alle, aber wie ne Zählkarte ausjefüllt wird, det könnse nich!" Die ekelhaften Stiefelknechte lachten daraufhin so dreckig, dass sich die in der Ausreiseschlange Stehenden gleich mitduckten, in der Hoffnung, dafür ungeschoren am Zolltisch vorbei zu kommen.

“Grenzer mit Kalaschnikow“

Auf dem für Ostberliner nach dem Bau der Mauer völlig unzugänglich gewordenen Fernbahnsteig des Bahnhofs Friedrichstraße war von der Bahnsteigkante im Meter Abstand ein zehn Zentimeter breiter, weißer Strich auf den Boden gemalt worden. Neugierig übertrat Rosemarie den Strich, um zu schauen, ob der verspätete Zug nicht endlich aus Warschau einrollte. Da ertönte aus quakenden Lautsprechern eine blecherne Stimme: "Bleiben sie hinter dem Strich stehen, bis der Zug eingelaufen und Anweisungen erteilt sind!" So hatten gleich alle Mitreisenden auf dem Bahnsteig ihr Fett mit wegbekommen, indem sie erschrocken nach dem Ursprungssitz der Stimme suchten und da wo sie standen, brav stehen blieben und sich nicht mehr vom Platz rührten. Rechts und links vor den im Halbrund abgehängten Scheibenfronten des Bahnhofs verliefen oben begehbare Querstege über den Gleisen. Auf denen wandelte je ein Grenzer mit Kalaschnikow im Anschlag hin und her, wie auch auf dem Bahnsteig vorn und hinten bewaffnete Gestalten standen. Dazu gab es erfahrungsgemäß bestimmt noch Stasi-Angehörige in Zivil, die - zum Schein mit Tasche und Koffer ausgerüstet - vortäuschten Reisende zu sein, um unauffällig das Geschehen auf dem ganzen Bahnsteig unter Kontrolle zu halten. So war der vom Fernbahnsteig sichtbare, von Ost- nach Westberlin führende S-Bahnsteig zur Endstation geworden. Eine bis zum Dach eingezogene, undurchsichtige Front trennte nun optisch, mechanisch und ideologisch die entstandenen Ost- und Westseiten des Bahnhofs voneinander. Da es anfangs nach dem Mauerbau hier noch keine Hochwand gab, gelangen einige Fluchtversuche mit der nach Westberlin zurückfahrenden S-Bahn. Rosemarie, die erstmals nach dem Mauerbau wieder in den Westen fuhr, dachte auf dem nun Furcht erregenden Bahnsteig: Was haben die nur für eine Angst vor eingeschüchterten Reisenden? […] Nach einer weiteren Durchsage auf dem Bahnsteig bewegte sich niemand von der Stelle. Alle standen steif und stumm auf dem Asphalt des Bahnsteigs wie aufgeklebte Plastikfiguren einer Modellbahnanlage.

“Mund halten und unauffällig bleiben“

Dann endlich Erlösung aus der Starre! Der internationale Zug aus Warschau rollte ein und brachte Bewegung in die Reisenden. Doch wieder ertönte die Lautsprecherstimme, hinter dem weißen Strich zu verbleiben und erst nach Aufforderung den Zug zu betreten, der quietschend hielt. Es tauchten plötzlich Leiterkommandos mit kläffenden Schnüffelhunden auf, die vor den Augen der Reisenden Hohlräume in Abteilen, Gängen und Toiletten nach Flüchtlingen und Verstecktem durchsuchten. Bis die Hunde den Zug klassenfeindlich für sauber hielten und das Suchgeschwader abzog. Erst jetzt durften die Menschen nach erneutem Aufruf den Zug betreten. Alles drängelte in Richtung Waggoneingänge, um nur ja wegzukommen vom grauslichsten Ort deutsch-deutscher Geschichte. Doch kaum waren die Reisenden eingestiegen - die meisten hatten noch nicht einmal Platz genommen - fuhr der D-Zug schon los. […] Aufatmen tat im Abteil niemand. Schließlich würde hinter Westberlin und vor Marienborn noch mal von den DDR-Organen kontrolliert. Schon deshalb hieß es im eigenen Interesse den Mund zu halten und unauffällig zu bleiben. Keiner traute dem anderen über den Weg und unterließ Gespräche mit dem Nachbarn. […]Mit Rosemaries Gedanken war der D-Zug an den S-Bahnstationen Bellevue und Tiergarten vorbei gerauscht und lief nun langsam in den Westberliner S- und Fernbahnhof "Zoologischer Garten" ein. Der Berlinerin wurde es weh ums Herz. Vor der Mauer war es stets der gleiche Weg mit der S-Bahn, fast eine Hausstrecke mit ihrem Mann gewesen, wenn sie über die Friedrichstraße ins wochenendliche "Westkino" fuhren. Marmor- und Zoopalast, Gloria, Delphi und MGM mit dem Filmepos "Vom Winde verweht", den sie als verliebte junge Leute sahen, erinnerten sie an unbeschwerte Zeiten, als Berlin noch ein Ganzes war! Dafür hatte nun ihr Mann mit den beiden Kindern als Faustpfand in Ostberlin zu verbleiben. Dabei wäre sie als Mutter, wenn doch wenigstens ihr Mann zum Schwager mitgedurft hätte, nie auf die Idee einer Flucht gekommen, hätte sie doch ihre Kinder bei der Oma in Pankow sitzen lassen müssen!

Wehmut

Der Zug hielt quietschend. Rosemarie erschien Westberlin wie eine fremd gewordene, weit entfernt liegende Berlinseite geworden zu sein. Wehmut kam in ihr auf, weil sie am Kiosk und an den so bunt gekleideten "Westlern" wieder sah, wo sie war. Der äußere Abstand zum Ostteil Berlins hatte sich sichtlich noch vergrößert. Dabei hatten die Oberen im Osten nach dem Mauerbau getönt, dass mit dem "Antifaschistischen Schutzwall" nun alles besser würde. Man sah es im rastlosen Treiben auf dem durch Offenheit gekennzeichneten Bahnsteig im Vergleich zum bitteren Geschehen im Tränenpalast und des Bahnhofs Friedrichstraße. Was für ein Unterschied!, sprach sie zu sich: Mit was haben wir Ostberliner das eigentlich verdient? Beide Seiten haben doch den Krieg verloren! In dem Moment hätte sie ihr Ungemach laut aus dem offenen Abteilfenster heraus schreien mögen. […] Rosemarie schaute wie in Trance zurück ins eigene Abteil. Sah die mitreisenden Rentner aus ihrer vorbildlichen sozialistischen Republik stumpfsinnig zusammengesackt dasitzen und war zerknirscht. Sie fuhr nicht nur zweiter Klasse D-Zug, sondern fühlte sich auch als Mensch aus dem Osten so. Was konnte sie denn dafür, vor dem Krieg von ihrer Familie in Pankow und nicht in Schöneberg geboren zu sein? So war ihr nach dem erniedrigenden Geschehen zum Abschied vor dem Tränenpalast noch einmal die Frage ihres Jüngsten in Erinnerung gekommen: "Mutti, warum hängt eigentlich von so einem Kinderstempel in deinem Pass ab, dass nur du und nicht wir alle zusammen zu Onkel Oskar nach Dortmund fahren dürfen?" "Mein Junge," hatte sie darauf vor der Tür des "Palastes der Tränen" mit feuchten Augen gesagt: "das wird dir nachher wohl nicht einmal dein Vati richtig erklären können!"

Empfohlene Zitierweise:
Nagel, Michael: Palast der Tränen, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/michael-nagel-palast-der-traenen.html
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