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Monika Bauert: Unfreiwilliger Aufenthalt im Tränenpalast

Dieser Eintrag stammt von Monika Bauert aus Berlin, Juli 2012. Dieser Beitrag entstand anlässlich der Erinnerung an den Bau des Tränenpalastes vor 50 Jahren. Im Juli 2012 lud die Stiftung Haus der Geschichte Zeitzeugen ein, um ihre persönliche Geschichte im Zusammenhang mit der Grenzübergangstelle zwischen Ost- und West-Berlin zu hören und zu sammeln.

Unfreiwilliger Aufenthalt im Tränenpalast

Als Bühnen- und Kostümbildnerin des Theaters Tübingen war ich mit der Uraufführung zu "Z:A:Z:A" von Manfred Bieler beauftragt. Dieses Stück spielte im sozialistischen Himmel und rechnete mit dem Alltag der DDR ab. Manfred Bieler hatte nach Arbeitsverbot die DDR in die Tschechoslowakei verlassen müssen und war nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt Truppen nach Westdeutschland ausgewandert. Dort sollte nun sein Stück endlich aufgeführt werden. Ich hatte keinerlei Erfahrung mit "dem Osten" und bat meinen Intendanten zu Recherchen nach Ostberlin fahren zu dürfen.

Recherchereise nach Berlin

Manfred Bieler nannte mir einen ehemaligen Dramaturgen, der inzwischen aber auch unter Berufsverbot litt, als Kontaktperson; er sollte mir fachkundig sozialistische Eigenarten vermitteln. Ich wohnte im Hotel in West-Berlin und fuhr täglich mit Tagesvisum in den Osten. Da es zur der damaligen Zeit keine Möglichkeiten gab, mich telefonisch vom Westen aus mit Dramaturgen zu verabreden, musste ich im Übergang Friedrichstrasse erst die Grenze passieren, um dann im dortigen Telefonhäuschen telefonieren zu können. Denn der Dramaturg sollte mir auch z.B. gegen Westmark Theaterkarten, Bücher und Bildmaterial besorgen. Das hatte zur Folge, dass ich mit kiloschweren Taschen voller Bücher, z.B. aus dem Haus des Lehrers, abends die Grenze passierte.

Theaterbesuch in Ost-Berlin

Eines Abends hatte ich mal wieder alle Pflichtübungen wie Zwangsumtausch, Tagesvisum etc. hinter mich gebracht, ging in die Telefonzelle, rief meinen Kontaktdramaturgen an und verabredete mich mit ihm in der Volksbühne. Dort sah ich ein kurioses Stück in der Regie von Benno Besson. Ich verstand die merkwürdige Sprache nicht, die mir völlig unbekannte Vokabeln enthielt - obwohl es sich hier auch um Deutsch handelte. In der Geschichte ging es um ein Ferienheim von verdienten Parteigenossen. In diesem Ferienheim gab es den gemeinen Arbeiter und den verantwortungsbewussten Vorgesetzten (Kaderleiter!). Im Stile von Commedia del Arte existierte dort eine Art Narrenkappe. Wenn der Arbeiter die Kappe vom Vorgesetzten aufsetzte, war es ihm - oh Wunder - möglich, die sorgendurchfurchten Gedanken zu erkennen - und umgekehrt. Also eine Art „Besserer-Durchblick-Kappe“. Etwas verunsichert, besuchte ich anschließend eine Diskussion im roten Salon, bei dem Zuschauer die Möglichkeit hatten, Fragen zu stellen. Zu meiner Verwunderung fand die Diskussion in der gleichen - obwohl deutschen - Sprache statt. Ich verstand noch nicht einmal Bahnhof. Es war kurz nach 23 Uhr und so schnappte ich mir ein Taxi, damit ich Ost-Berlin bis 24 Uhr verlassen konnte.

Ausreise über den Bahnhof Friedrichstraße

Im Tränenpalast zur Ausreise angekommen, fasste ich in mein Theatertäschchen, um Pass und Dokumente herauszuholen. Doch leider: Fehlanzeige. Kein Pass, kein Tagesvisum - NICHTS. Ich wandte mich an den Diensthabenden und verkündete ihm: "Mein Name ist….., ich kann mich leider nicht ausweisen. Ich bin heute Abend um 19 Uhr eingereist, habe die Volksbühne und den roten Salon besucht und ein Taxi genommen. Auf diesem Weg muss mir Pass usw. abhandengekommen sein." Der Diensthabende meinte, er müsse nun erst die Grenze schließen. Danach führte er mich durch labyrinthische unterirdische Gänge. Diese waren grau gestrichen und recht schmucklos. Dafür aber durch Spiegelspione überwacht. Wir passierten mehrere Türen, die jeweils erst nach Klingeln und Gegensprechanlagen per krächzenden Summton von Geisterhand geöffnet wurden. Der Diensthabende lieferte mich in einem grau gestrichenen Ölsockelraum ab, in dem auch die Fensterscheiben zulackiert waren. Eine nackte Glühbirne gab fahles Licht. Dort gab es einen hässlichen Schreibtisch und einen Stuhl, auf dem ich sitzen durfte. An einer Wand hing ein Ölimitatbild von Lenin und auf der gegenüberliegenden Wand ein Reprodruck von Ulbricht. Mein ganz besonderer Liebling: die Blumenetagere mit drei verschiedenfarbigen Etagen im 50er-Jahre "Design" ohne Pflanzen. Ich saß da eine ganze Weile alleine, bis die graue Türe wieder aufgeschlossen wurde. Ein Uniformierter befragte mich. Ich wiederholte meine abendliche Geschichte. Mir wurde bedeutet, dass ich entweder als Fliehende oder als Fluchthelfer gelten würde. Und wurde wieder eingeschlossen. Da ich mir keiner Schuld bewusst war und ich inzwischen ja Zeit zum Nachdenken hatte, machte ich den Vorschlag, doch einmal in der Telefonzelle direkt vor dem Hause nachzuschauen. Die Beleuchtung sei kaputt gewesen und da ich ein blödsinniges Mini-Theatertäschchen aus Krokodilleder mit mir führte, das so klein war, dass nicht einmal der Pass da richtig hineinging, erschien mir die Möglichkeit sehr wahrscheinlich. (Das blödsinnige Theatertäschchen hatte ich preiswert während eines einjährigen Tourneetheateraufenthaltes durch Südamerika - an einem deutschsprachigen Theater als Bühnen- und Kostümbildnerin - von einem deutschstämmigen Krokodilledertaschenfabrikanten erworben.)Wieder verging eine Weile. Inzwischen wechselten sich die Uniformierten ab. Es begann mit einer Uniform mit einem Stern auf der Schulterklappe und dem immer gleichen Muster: Aufschließen - Befragung - Abschließen.

Eine Nacht im Tränenpalast

Nächste Uniform: zwei Sterne. Aufschließen - Befragung - Abschließen. Meine größte Sorge war, dass mir die Zigaretten ausgehen könnten (denn damals rauchte ich noch). Da saß ich nun in der grauen Ölsockelräumlichkeit etwas over-dressed im Theaterausgehfummel mit Minitheaterkrokotäschchen, jedoch mit einer dekorativen bolivianischen Indianerstola in Knallfarben pink, gelb blau, grün und fühlte mich irgendwie deplatziert. Zudem waren die Bücher mit Unterlagen zu DDR-Uniformen neben mir gestapelt. Inzwischen war es dann auch schon 4 Uhr morgens. Im Verlauf der Nacht kam pro Stunde ein Stern auf der Schulterklappe hinzu. Als dann schon 4 Sterne auf der Schulterklappe im Einsatz waren, mag eine Äußerung von mir auf völliges Unverständnis gestoßen sein: "Das ist sicher scheiße, dass ich den Pass verloren habe, aber ich habe kein größeres Bedauern, als wenn ich meinen Kamm verloren hätte." Doch der Gedanke, am publikumreichen Grenzübergang einen heiß begehrten Westpass verloren zu haben, konnte mich doch schon beunruhigen. Kann denn nicht wirklich mal einer in die Telefonzelle gehen und nachschauen??? Is ja schon 5 Uhr!!!

Um 6 Uhr erschien ein freundlicher Uniformierter (ohne Sterne), in der Hand hatte er meinen Pass und Dokumente AUS DER TELEFONZELLE! Immerhin hatten sie 11 Stunden unangefochten dort herumgelegen. Kaputte Beleuchtung sei Dank. Man brachte mich zu einem Übergang, an dessen Namen ich mich nicht erinnere. Möglicherweise Heinrich-Heine-Straße. Denn der Weg war endlos, menschenleer und ohne Verkehr. Es war November, tief hängende Strahler mit nebligen Lichtkegeln. Ich hatte mal einen Film gesehen, der mich an die Szene erinnerte: "Der Spion, der aus der Kälte kam"- ein Witz dagegen.

Wie im Spionage-Film

Es gibt Menschen, denen ich von dieser Nacht erzählte, die meinten, es hätte auch anders ausgehen können. Ob meine Recherchen mit dem real existierenden Sozialismus dem Theaterstück letztlich geholfen haben? Die Kritiken waren niederschmetternd, dafür konnte ich aber 40 Jahre später die atmosphärischen Erinnerungen des Tränenpalastes in einem Kinofilm: "Liebe Mauer" (Regie Peter Timm, 2010) szenenbildnerisch mit grau gestrichenen Ölsockeln festhalten. Die Uniformierten haben mich zwar Stunden schmoren lassen, aber ansonsten durchaus korrekt behandelt. Die kleinkarierten Schikanen habe ich allerdings an den „normalen“ Grenzabfertigungen erfahren dürfen.

Es muss sich um November 1969 gehandelt haben.

Empfohlene Zitierweise:
Bauert, Monika: Unfreiwilliger Aufenthalt im Tränenpalast, in: LeMO-Zeitzeugen, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/monika-bauert-unfreiwilliger-aufenthalt-im-traenenpalast.html
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