Dieser Beitrag wurde von Helmut Caspar aus Berlin am 25.04.2000 eingereicht.
Schulalltag in der DDR
1950 schrieb meine Mutter Charlotte Caspar, geb. Röhr, diesen Brief an eine Verwandte in Frankfurt/Main. Der Brief enthält eine recht plastische Beschreibung der Nöte, denen eine fünfköpfige Familie damals in Potsdam ausgesetzt war.
Mein Vater, ursprünglich bei der Victoria-Versicherung tätig, hatte gerade eine Umschulung als Lehrer absolviert, meine beiden älteren Brüder besuchten die Oberschule und waren einem gewissen Druck als Kinder von "Bürgerlichen" ausgesetzt. Ich kam damals gerade in die erste Klasse und kann mich ganz dunkel an die Begebenheiten erinnern, die meine Mutter aufgeschrieben und nach Westberlin zur Post geschmuggelt hat.
Brief der Mutter
"[...] Hans Jürgen ist in der 11. Klasse (Unterprima) und ist 16½ Jahre. Also Juni 1952 macht er das Abitur oder auch nicht. Er ist einer der Besten der Klasse. Da er aber nicht in der FDJ ist, ist es sehr fraglich, ob er überhaupt zum Abitur zugelassen wird. Wenn ich auch Arbeiterin bin, so sind unsere Kinder noch lange keine Arbeiterkinder. Neulich wurden alle Kinder in den Schulen aufgeschrieben, deren Väter 1943 Arbeiter waren oder Bauern. Nur diese galten als Bauern- oder Arbeiterkinder, dann wurden alle Kinder notiert, deren Väter Offizier, Fabrikant oder Großgrundbesitzer waren. Da könnt Ihr Euch denken, als sich solche Kinder kaum gemeldet haben. Denn so dumm sind die Kinder doch nicht, nicht zu wissen, was das bedeutet.
Gerhard ist nur in der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Ich bin nur in der Gewerkschaft. Wie lange sich Gerhard als Lehrer vor der SED drücken kann, weiß der Himmel. Unser ganzes Leben ist ein politischer Eiertanz. Jeder versucht, sich so gut wie möglich durchzuschlängeln, möglichst unscheinbar im Hintergrund zu bleiben. Wölfi geht auch nicht in die FDJ rein. Er muß sein Singen im Kirchenchor aufgeben, da er allmählich Stimmbruch bekommt.
[...] Bei Hans Jürgen hatte ich während des Konfirmandenunterrichts Schwierigkeiten, daß er zum Gottesdienst ging. Jürgen geht sehr gerne zur "Jungen Gemeinde", einer kirchlichen Vereinigung junger Männer. Er hat eingesehen, daß die Kirche der Gott in der heutigen Zeit ist. Was zur Kirche gehört, ist für den Bolschewismus verloren.
[...] Hans Jürgen ging seiner Zeit in den sprachlichen Zweig über (Latein, Englisch, Französisch, Russisch). Er bedauert, daß er diesen Zweig wählte, da er Elektrotechnik studieren will und dazu viel Physik braucht. Aber er wird ja niemals zum Studium (wir haben hier eine Hochschule: Bauern- und Arbeiterfakultät) zugelassen, da Gerhard kein Arbeiter oder Bauer ist. Und im Westen wird das Ostzonenabitur nicht anerkannt. Wir können eben immer nur auf das große Wunder am politischen Himmel hoffen. Hoffentlich versinken wir inzwischen nicht gänzlich in der roten Flut. Helmutchen singt den ganzen Tag politische Lieder. Er kennt ja nur rote Fahnen und rote Kampflieder. Natürlich bringen wir ihm auch die schönen alten Volkslieder bei, aber bei ihm wird sich der Einfluß der Schule sehr bemerkbar machen."
Empfohlene Zitierweise:
Caspar, Helmut: Schulalltag in der DDR, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/helmut-caspar-schulalltag-in-der-ddr.html
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