Dieser Beitrag wurde von Rosemarie Starke (*1937) aus Dresden verfasst.
17. Juni 1953 in Görlitz:
Ein Datum, das man nie vergessen wird.
Was ist eigentlich los, fragten die Kolleginnen. Seit den frühen Morgenstunden ist die kleine, schmale Seitenstraße, in der unser Geschäft liegt, fast menschenleer. Nur ab und zu kommt ein Kunde, der sich zum Frühstücksbrot 50 g Wurst oder 100 g Fleischsalat holt.
Doch plötzlich und ganz unvermutet wälzt sich eine lärmende Menschenmenge, die Straße von Hauswand zu Hauswand ausfüllend, unsere Straße entlang. Mehrere Leute rufen zur Tür herein: "Schließt euren Laden ab, ehe die Plünderungen losgehen. Es findet in der ganzen Stadt ein Aufstand statt." Wir Lehrlinge hatten eigentlich zuvor nichts bemerkt, was auf so ein Ereignis hinausgehen könnte. Wir standen alle kurz vor der Facharbeiterprüfung und waren so allseitig beschäftigt. Ich sollte am 18.6. die Prüfung für Schaufensterdekoration absolvieren und hätte schon an diesem Nachmittag Vorbereitungszeit gehabt. Jetzt war plötzlich alles anders. Wir vier, die noch Dienst im Laden hatten, bemerkten jetzt, daß unsere Lehrmeister nicht in den hinteren Räumen waren, wie sonst immer. Was sollten wir tun? Die Ladenschlüssel lagen auf dem Schreibtisch, aber keiner wollte die Verantwortung übernehmen und eigenmächtig und ohne Zustimmung von "oben" die Arbeit beenden. Weil es aber inzwischen beängstigend war, wegen der Krawalle auf den Straßen, haben wir dann doch das Geschäft verlassen. Zur Innenstadt zu gehen, war aussichtslos. Die Massen bewegten sich in Richtung Untermarkt, wo das Gebäude stand, in dem die Polizei und die Justiz untergebracht waren. Alle schrien, rannten und schoben die Massen in diese Richtung.
Großes Gedränge
Ich wurde genauso mitgerissen und als wir den Untermarkt erreicht hatten, war das Gedränge so groß, daß man fast erdrückt wurde. Mir ist erst gar nicht bewußt gewesen, was jetzt vor sich gehen sollte. Einige gingen um wie die Vandalen, sie zerstörten alles, was sie erwischen konnten. Andere, so auch wir, sind einfach mitgerissen worden. Wieder andere wollten schlichten, kamen aber überhaupt nicht zu Wort. Weil die Beamten der betreffenden Dienststellen die Türen und Fenster verschlossen und so verbarrikadiert hatten, daß niemand von dieser aufgebrachten Menschenmenge hinein konnte, sah ich mehrere Jugendliche und Männer, die an den Simsen der Außenfassaden hinauf kletterten. Sie versuchten die Fensterscheiben einzuschlagen, um so das Gebäude zu stürmen. Die Menschen waren wie von Sinnen. Ich begriff die Wut und den Zorn noch gar nicht so richtig.
Jugendliche in Nagelkisten eingesperrt
Alle erzählten so schreckliche Sachen, zum Beispiel hatten Arbeiter im Keller eines Amtsgebäudes, Jugendliche im FDJ-Hemd gefunden, die in Nagelkisten eingesperrt waren. Als man sie noch in letzter Minute befreien konnte, erzählten sie, daß sie selbst Funktionäre waren und auf Grund von grobem Ungehorsam und Nichteinhaltung von politischen Vorschriften, so grausame Strafen erhielten. Solche oder ähnliche Vorfälle von politischer Willkür kamen massiert ans Tageslicht und auch deshalb herrschte in der ganzen Stadt so ein kriegsähnlicher Zustand. Nein, es war ein Krieg! Ich hatte meine Kolleginnen aus den Augen verloren und war plötzlich allein inmitten der vielen verzweifelten und aufgebrachten Menschen. Als ich mich umsah, hatten die Aufständischen schon einen jungen Polizeibeamten aus dem Fenster geworfen. Viele riefen: "Hängt ihn auf, er soll für alle büßen." Ich kann nicht mit Worten beschreiben, wie schrecklich das für mich war. Mein Herz klopfte so, daß es bis zum Hals hoch pochte. Ich konnte den Herzschlag dröhnen hören. Ich wollte so schnell wie möglich hier weg. Als ich mich ein Stückchen in die andere Richtung durchgekämpft hatte, walzte schon wieder ein breiter Menschenstrom in Richtung Gefängnis. Ich hatte keine Chance nach rechts oder links auszuweichen. Die wütenden Massen schoben nach vorn, drückten, liefen mit dem Ziel vor Augen, alle politischen Gefangenen zu befreien. Selbst am Portal der Strafvollzugsanstalt gab es kein Ausweichen mehr. Ich sah erstmals in meinem Leben ein Gefängnis von innen. Alle Amtsstuben waren leer. Es gab Leute, die schlossen alle Zellen auf, ohne zu fragen, ist das nun ein "Politischer" oder ein Schwerverbrecher? Das machte mir schon sehr große Angst und sicher nicht nur mir. Weiter ging es wie eine Flutwelle. Alle Gänge entlang in die Küchen. Die Kessel mit den Suppen waren heiß oder brodelten sogar noch, aber keiner war da, der hierher gehörte. Ziemlich gespenstisch das Ganze. In einem Arbeitsraum waren noch Wäschereiarbeiter und Brigadiere, alles Strafgefangene nach der Kleidung zu urteilen, aber nirgends ein Wärter oder Aufseher vom Polizeipersonal.
“Ich wollte weg, es war unheimlich!“
Nun strömten alle wieder in die Keller und dann endlich nach draußen, Ich wollte weg, es war unheimlich! Inzwischen wurde in der Innenstadt geschossen. Keiner wußte wo das herkam, es knallte in den Seitenstraßen. Barrikaden auf dem Postplatz machten es fast unmöglich noch wegzulaufen. Ich nahm allen Mut zusammen und versuchte, wie die zwei Männer, die soeben durch die Absperrung kletterten, auch durch oder darüber zu gelangen. Sie halfen mir die Barrieren zu überwinden. Erst jetzt merkte ich, daß ganze acht Stunden seit Beginn dieser Aktion vergangen waren.
Verkehrsmittel waren nicht im Einsatz, alle liefen durcheinander. Ich war froh, als ich das Stadtzentrum hinter mir lassen konnte. Unterwegs traf ich ein Mädchen, das mit mir im Heim am Weinberg wohnte. In den folgenden Tagen war es erschreckend ruhig. Man hatte dauernd das Gefühl, es müßte noch was Furchtbares passieren, vielleicht sogar Krieg. Die Gerüchteküche brodelte nur so, aber keiner traute sich laut Diskussionen darüber anzustellen. Doch es dauerte nicht mal eine Woche und alle amtlichen Maßnahmen wurden drastisch verschärft. Die Polizei und die Armee waren überall präsent. Als Folge dieses Aufstandes wurden eiligst lockere Bedingungen für Jugendclubhäuser und Kapellen bekanntgegeben. Man konnte bei 80% Ostmusik-Titeln jetzt 20% Westschlager offiziell in den Veranstaltungen spielen. Aber wie gesagt, es war erlaubt, aber nicht erwünscht. Und so langsam haben sich eben fast alle wieder an den Zustand des kontrollierten Lebens gewöhnt. Der letzte Krieg war doch noch zu frisch im Gedächtnis der Menschen und man wollte es doch einst besser machen.
Empfohlene Zitierweise:
Starke, Rosemarie: 17. Juni 1953 in Görlitz: ein Datum, dass man nie vergessen wird, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/rosemarie-starke-17-juni-1953.html
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