Nach einer "trügerischen Ruhe" und eher "halbherzigen justiziellen Aufarbeitung" des "Dritten Reiches" in den 1950er Jahren erlebt die öffentliche Diskussion über die NS-Vergangenheit in den 60er Jahren einen Höhepunkt. Zu den wichtigsten Ereignissen, die diesen Wandel bewirken, gehören die großen Prozesse gegen NS-Verbrecher und die Debatte über die Verjährung. Die Weltöffentlichkeit, die an der deutschen Aufarbeitung der Vergangenheit großen Anteil nimmt, sieht das gleichzeitige Anwachsen des organisierten Rechtsextremismus während der Rezession mit Besorgnis.
Auslöser der Debatte ist der Ulmer "Einsatzgruppenprozess" 1958, der das Ausmaß der Verbrechen im Osten, aber auch Versäumnisse der bisherigen Strafverfolgung aufdeckt. Um die zukünftige Ermittlungsarbeit zu verbessern, wird 1958 die "Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen" in Ludwigsburg eingerichtet. Sie ist zuständig für Verbrechen "gegenüber Zivilpersonen außerhalb der eigentlichen Kriegshandlungen, insbesondere bei der Tätigkeit der sogenannten Einsatzkommandos" der SS und in Konzentrationslagern. Ihre Arbeit führt bis 1964 in fast 550 Fällen zur Einleitung eines Strafrechtsverfahrens.
Nach einer Welle von antisemitischen Schmierereien, die 1959/60 die deutsche und internationale Öffentlichkeit aufschrecken lässt, erfährt die Aufarbeitung der Vergangenheit auch durch den 1961 in Jerusalem beginnenden Prozess gegen den Organisator der "Endlösung", Adolf Eichmann, und die umfangreiche Berichterstattung in den Medien neue Impulse. Eichmanns kleinbürgerliche Technokratenmentalität führt den Deutschen wie nie zuvor die Perversion einer geschäftsmäßigen Mordbürokratie vor Augen, die Hannah Arendt später treffend als "Banalität des Bösen" bezeichnet. Ähnlich aufrüttelnd wirken auch die Presseberichte über die Auschwitz-Prozesse, die die deutsche Öffentlichkeit erneut mit unvorstellbaren Verbrechen konfrontieren.
Forderungen nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit werden laut und belasten auch die Diskussion um die 1965 anstehende Verjährung aller vor 1945 begangenen Kapitalverbrechen. Im Bundestag findet man nach heftigen Debatten zu einem tragfähigen Kompromiss, der eine Verlängerung der Frist für zunächst 4 Jahre bedeutet. Die neugegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), die während der Konjunkturkrise 1966/67 großen Zulauf findet, wird von allen demokratischen Parteien und vielen gesellschaftlichen Gruppen vehement bekämpft.
(ahw) © Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Stand: 05.05.2003
Text: CC BY NC SA 4.0
Empfohlene Zitierweise:
Hinz-Wessels, Annette: Auschwitz-Prozess und Verjährungsdebatte, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/bundesrepublik-im-wandel/auschwitz-prozess-und-verjaehrungsdebatte.html
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