Die von Anfang an knappe Mehrheit der Regierungskoalition aus SPD und FDP schmilzt aufgrund des Wechsels von Abgeordneten beider Regierungsfraktionen zur Opposition noch weiter zusammen. Bei der Abstimmung über den Etat des Bundeskanzleramtes am 28. April 1972 kommt es schließlich zur Stimmengleichheit. Am 20. September 1972 stellt deshalb Bundeskanzler Brandt im Bundestag die Vertrauensfrage. Mit einer einkalkulierten Niederlage durch Stimmenthaltung der Kabinettsmitglieder macht er so den Weg frei für Neuwahlen. Gegen Bundeskanzler Brandt tritt die Union mit dem CDU-Parteivorsitzenden Rainer Barzel an.
Wie selten zuvor engagieren sich Bürger im Wahlkampf mit Buttons, Aufklebern und Anzeigen für ihre politische Überzeugung. Zahlreiche Prominente bekunden freimütig, welcher Partei sie zuneigen. Besonders umworben sind die vielen Erstwähler da das Wahlalter seit 1970 auf 18 Jahre gesenkt ist. Weil in der letzten Phase des erbittert geführten Wahlkampfs die Ostpolitik der Regierung zum beherrschenden Thema wird, gilt die Wahl auch als Plebiszit über die Ostverträge. Darüberhinaus erklärt die SPD die Wahl auch zur Vertrauensabstimmung über Bundeskanzler Brandt.
Mit der Rekordbeteiligung von 91,1 Prozent gehen die Bürger am 19. November 1972 zur Wahl: Die SPD gewinnt drei Millionen Stimmen hinzu und wird mit 45,8 Prozent erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik stärkste Fraktion vor der CDU/CSU mit 44,9 Prozent. Auch die FDP profitiert von dieser Entwicklung. Sie hat sich vor der Wahl mit einer eindeutigen Koalitionsaussage zur SPD bekannt und erreicht 8,4 Prozent. Am 14. Dezember 1972 wählt der Bundestag mit 269 gegen 223 Stimmen zum zweiten Mal Willy Brandt zum Bundeskanzler.
(ag) © Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Stand: 22.09.2014
Text: CC BY NC SA 4.0
Empfohlene Zitierweise:
Grau, Andreas: Bundestagswahl 1972, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/bundesrepublik-im-wandel/bundestagswahl-1972.html
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